Hals über Kopf müssen sie aufgebrochen sein. Ohne Gepäck, ohne Proviant und ohne zu zögern. Die Sterndeuter haben lediglich ihre Kamele aufgezäumt, etwas Gold und die Fernrohre eingesteckt. Und los ging’s. Wie in Trance. Diesem neuen Stern hinterher, der so viel heller strahlte als alles, was die Astronomie je am Himmel beobachtet hatten.
800, 900, 1000 Kilometer. Einen ganzen Monat lang. Ohne viel Schlaf. Und doch elektrisiert vom Zauber, den der bestirnte Himmel auf Menschen von jeher ausgeübt hat. Eine Suche nach dem Magie der Sterne. Die nie besser wirkt als in der Heiligen Nacht.
Nur die Sterndeuter mussten das knifflige Gottesrätsel ohne Hilfe lösen.
Die Weisen aus dem Morgenland waren die intellektuellsten Besucher an der Krippe zu Bethlehem. Weshalb Gott für sie alles ein wenig komplizierter arrangiert hat, als für die anderen Beteiligten. Maria und die Hirten wurden von Engeln über die Pläne des Himmels informiert. Josef erhielt seine Anweisungen im Traum. Nur die „Magoi“ mussten ein kniffliges Sternenrätsel lösen. Ohne jede überirdische Hilfe.
Der Jesuitenpater Alfred Delp, den die Nationalsozialisten umgebracht haben, schrieb, die Sterndeuter seien keine “schlauen“, sondern „kluge“ Menschen gewesen. „Sie waren in der Lage, die großen Zusammenhänge zu sehen, und aus tausend Hinweisen die Antwort zu finden.“
In Babylon hielt man die Sterne für Götter, deren Zeichen am Himmel zu sehen waren.
Tatsächlich war die Astronomie in Babylonien zur Zeitenwende schon weit fortgeschritten. Bei Ausgrabungen hat man Tontäfelchen gefunden, auf denen die Bahnen der Planeten recht exakt beschrieben sind. In Babylon nämlich hielt man die Sterne für Götter und wartete unentwegt auf Zeichen vom Himmel.
„Es wundert nicht, dass die Weisen sofort hellwach waren, als plötzlich ein völlig neuer Stern am Himmel erschien“, sagt Christof Ellsiepen, der evangelische Dekan von Heidelberg.
„Wahrscheinlich war das ein Urmoment im Leben der Sterndeuter“, überlegt Ellsiepen. „Ein Augenblick, der sich so fest in ihrem im Gedächtnis verankert hat, dass sie ihn später jederzeit wieder abrufen konnten.“ Mitsamt aller Gerüche, Bilder und Gefühle. Jeder Mensch, glaubt der Heidelberger Dekan, erlebt solche Urmomente. „Sie stellen die Weichen in unserem Leben.“
War der Stern von Bethlehem eine Konjunktion von Jupiter und Saturn?
Zahllose astronomische Theorien sind in den letzten 2000 Jahren entwickelt worden, um den Stern von Bethlehem wissenschaftlich zu verifizieren. Ursprünglich glaubte man, dass es ein Komet gewesen sei. Weil die Schriften davon sprachen, dass der Stern immer „weiterzog“.
Historisch wäre da nur der „Halleysche Komet“ in Frage gekommen, der in den Jahren 12 und 11 vor Christi Geburt am Firmament gesichtet wurde. Allerdings datiert die Forschung die Geburt Jesu recht zweifelsfrei zwischen den Jahren 7 und 4 vor der Zeitenwende. Also deutlich früher. Und zudem galten Kometen in der Antike als Unglücksboten. Was sich mit der Begeisterung der Babylonischen Sterndeuter nicht vereinbaren lässt.
Heute tippen die Astronomen, auf eine „Konjunktion“ von zwei Planeten. Jupiter und Saturn. Sie sollen im Jahr 7 vor Christus exakt parallel gelaufen sein. Wodurch sie von der Erde aus gesehen optisch zu einem einzigen sehr hellen Stern verschmolzen sind. Johannes Kepler hat diese Möglichkeit erstmals ins Gespräch gebracht. Um 1600. Die moderne Astronomie hat dann zusätzlich festgestellt, dass sich Jupiter und Satur in diesem Jahr wohl gleich dreimal hintereinander getroffen haben. Das würde zum ziehenden Stern der babylonischen Weisen passen.
„Einfach aufbrechen und entdecken, was hinter den Zeichen steckt“, rät der Dekan.
„Die Geschichte vom Weihnachtsstern ist für mich gerade deshalb so schön, weil sie so viel unklar und offen lässt“, sagt Christof Ellsiepen. Die Weisen laufen los. Ohne zu wissen, wohin. Und dann folgen sie einfach treulich dem Glanz des Sterns. Ohne sich Sorgen zu machen, was auf sie zukommt. „Ich wünschte mir, dass das die normale Art wäre, wie wir Menschen mit Zeichen umgehen“, überlegt der Dekan. „Einfach aufbrechen und entdecken, was dahintersteckt.“
Worüber mögen die babylonischen Sterngucker nachgedacht haben? Auf ihren langen nächtlichen Märschen durch die Wüste. Vielleicht ist es ihnen ergangen ist wie allen Menschen, die in sternklaren Nächten zum Firmament hinaufblicken. Das Leuchten des Universums hat ihre Seele angerührt.
„Die für mich eindrücklichste Sternengeschichte widerfährt Abraham“, findet Tatjana Abele, Gemeindereferentin und katholische Religionslehrerin in Wiesenbach. Abraham erhält von Gott das Versprechen, dass er so viele Nachkommen haben wird, wie Sterne am Himmel stehen. „Schon den allerkleinsten Kinder ist klar, dass man die Sterne nicht zählen kann“, sagt Tatjana Abele. „Das Firmament ist also immer auch ein Bild für die Unendlichkeit. Und damit für Gott.“
Der Planet, der das Licht ausgesandt hat, existiert womöglich schon nicht mehr. Trotzdem sehen wir ihn leuchten.
Doch nicht nur die Zahlen verlieren ihre Gültigkeit, sobald die Sterne ins Spiel kommen. Die Zeit auch. Das Licht aus der Adromeda-Galaxie, das heute Nacht als Stern auf der Erde sichtbar wird, hat eine Reise von drei Millionen Jahren hinter sich. Der Planet, der dieses Licht ausgesandt hat, existiert womöglich schon seit Jahrhunderten nicht mehr. Und trotzdem sehen wir ihn leuchten. Was also bedeutet „heute Nacht“ in Bezug auf den Sternenhimmel?
Ist es nicht erstaunlich, bemerkt Raimund Abele, katholischer Diakon mit Zivilberuf, dass die Sterne trotz all ihrer Unbegreiflichkeit niemandem Angst machen? „Im Unterschied zu allen anderen Naturerscheinungen wie Hitze, Regen oder Gewitter weckt der Sternenhimmel keinerlei negative Gefühle in den Menschen“, staunt Abele, der im Hauptberuf Chemiker ist. „Vielleicht liegt es daran, dass die Sterne so weit von uns entfernt sind und dass wir sie deshalb stets als etwas Märchenhaftes empfinden.
Die Sternschnuppe fällt nur vom Himmel, damit wir uns etwas wünschen dürfen.
„Indirekte Magie“ nennt Gemeindereferentin Tatjana Abele die Beziehung der Menschen zu den Sternen. „Wir wissen genau, dass diese Lichter äonenweit entfernt sind. Und trotzdem glauben wir, dass sie nur für uns strahlen.“ So wie die Sternschnuppe, die vom Himmel fällt, damit wir uns etwas wünschen können. „Diesen Zusammenhang bringen wir schon den Kindern bei“, lächelt Tajana Abele.
Mittlerweile etabliert sich auch ein rapide wachsendes Geschäftsfeld um diese seltsam-magische Beziehung zwischen unserem Leben und der Unendlichkeit des Weltalls. Astrologen, die aus der Sternenkonstellation bei der Geburt eines Menschen Rückschlüsse auf seinen Charakter und seine Zukunft ziehen. Engelfreunde. Kartenleger. Runenwerfer. „Die Esoterik ersetzt ja inzwischen für viele Menschen den christlichen Glauben“, bedauert Diakon Raimund Abele. „Auf die überlieferten Symbole des Christentums wollen sie allerdings nicht verzichten.“
Sobald der Verstand die Intuition kontrolliert, geht alles schief.
Unsere Sterndeuter mit ihren Kamelen haben inzwischen Jerusalem erreicht. Doch plötzlich tun sie etwas Seltsames. Statt treu weiter ihrem Leitstern zu folgen, begeben sie sich zum Palast des Königs Herodes. Dass dieser ihnen sofort eine Audienz gewährt, zeigt welch hohes Renommée die Weisen auch in Judäa genießen. Aufgeregt berichten die Astronomen dem König von ihrem neuen Stern. Und fragen in einer Naivität, zu der wohl nur Wissenschaftler in der Lage sind, ob Herodes vielleicht etwas von der Geburt dieses neuen Königs gehört habe.
In Panik lässt Herodes seine Schriftgelehrten kommen. Diese zitieren prompt die Worte des Propheten Micha: „Aber du, Betlehem, so klein unter den Gauen Judas, aus dir wird einer hervorgehen, der über Israel herrschen soll.“
Entsetzen im Königspalast. Mordlust im Herzen des Herodes. Zufriedenheit bei den Sterndeutern. Sie kennen jetzt ihr Ziel: Bethlehem. Und machen sich sofort wieder auf den Weg. Kaum haben sie die richtige Richtung eingeschlagen, geht ihnen auch der Stern wieder voran.
Doch Vorsicht: „Unter Umständen muss man sein gewohntes Gleis verlassen, um dorthin zu gehen, wo man noch nie war“.
Der Grundfehler der „Magoi“ in Jerusalem, überlegt Dekan Christof Ellsiepen, bestand darin, dass sie das Vertrauen in die Führung ihres Stern verloren haben. „Statt ihm einfach weiter zu folgen, versuchten sie, ihren Verstand ins Spiel zu bringen.“ Und sind damit furchtbar gescheitert. Der Stern, sagt Ellsiepen, stehe für Intuition, Gottvertrauen, Gebet. Alles „Himmelszeichen“, die den Menschen leiten, wenn er nicht mehr weiter weiß.
„Das funktioniert aber nur, wenn man die Bereitschaft mitbringt, sich an die Hand nehmen zu lassen.“ Sowie eine kräftige Portion Mut. „Weil man unter Umständen sein gewohntes Gleis verlassen muss, um irgendwohin zu gehen, wo man noch nie war.“
Menschen, die ihr Licht gefunden haben, brauchen keinen Stern mehr.
Die Sterndeuter aus dem Morgenland haben das göttliche Kind tatsächlich gefunden. Im Stall zu Bethlehem. Sie haben es angebetet und ihm ihr restliche Gold, den Weihrauch und die Myrrhe zu Füßen gelegt. Dann sind sie nach Babylon zurückgekehrt. Auf einem anderen Weg. Wie Gott es ihnen im Traum aufgetragen hat. „Menschen, die ihr Licht gefunden haben, brauchen keinen Stern mehr als Mittler“, glaubt Christof Ellsiepen. „Sie kommunizieren direkt mit Gott.“
In Jerusalem jedoch hatten die Magier einen Flächebrand gelegt. Nur einen Tag nach ihrem Besuch wird König Herodes alle neugeborenen Jungen in Judäa brutal ermorden lassen. Die heilige Familie entkommt dem Blutbad in letzter Sekunde. Durch die Flucht nach Ägypten…
Doch so weit sind wir noch nicht. Jetzt ist erst einmal Weihnachten. Die Lichter leuchten. Die Engel singen. Und wer weiß, vielleicht fällt plötzlich Gold von den Sternen. Und alles ist anders.