Die stillen Stars

Die Hirten sind an Weihnachten
weit über sich hinaus gewachsen
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Es waren die dunkelsten Nächte des Jahres. Kein Mond, kein Licht, nirgends. Längst hatte der eisige Wind die Erinnerungen an die Leichtigkeit des Sommers verweht. Unendlich lange her die letzte Umarmung.

Die Hirten fröstelten und zogen ihre Wolldecken enger um die Schultern. Plötzlich stand er da. Der Engel. Allüberragend. Urgewaltig. Der Himmel fluoriszierte in gleißendem Weiß, die Luft flirrte elektrisch. Dann Worte. Sanft wie ein Windhauch, grollend wie Donner: „Fürchtet Euch nicht“

Ein biblischer Engel ist ein machtvolles Wesen. Mit acht Augen und mehreren Flügeln.

Das ist leichter gesagt als getan beim Anblick eines biblischen Engels. Er hat nicht das Geringste gemein mit den putzigen Putti, die barocke Altäre umflattern. Ein biblischer Engel ist ein machtvolles Wesen. Überwältigend groß, mit vielen Augen und mehreren Flügeln. Um solch eine Erscheinung auszuhalten, muss man hart sein im Nehmen. Wie die Hirten. Vielleicht ist der Engel ja deshalb zu ihnen gekommen. Damals. In der Heiligen Nacht.

Vincenzo Petracca ist evangelischer
City-Pfarrer in Heidelberg.

„Hirten sind definitiv keine Angsthasen“, sagt Vincenzo Petracca, der evangelische City-Pfarrer von Heidelberg. „Sie sind raubeinige, stinkende Gesellen, die ungeschützt draußen auf dem Feld schlafen und wilde Tiere in die Flucht schlagen.“

Gute Manieren und Seife sind dabei überflüssig. Was das Image der Hirten belastet. Sie gelten als ungewaschen, ungehobelt, unzivilisiert. Menschen, zu denen man automatisch Abstand hält. „Der Evangelist Lukas berichtet, dass die Hirten im Dunkeln saßen, als der Engel kam“, überlegt Petracca. Vielleicht wollte Lukas damit nicht nur die Tageszeit angeben, sondern auch den gesellschaftlichen Status. „Am äußersten Rand, in der sozialen Finsternis“.

Ein Hirte bemerkt die Zeichen früher als jemand, der behaust und behütet ist.

Pfarrer Joachim Maier leitet die
katholische Seelsorgeeinheit Waibstadt
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Pfarrer Joachim Maier lebt auf dem Land. Er leitet die katholische Seelsorgeeinheit Waibstadt, in der es tatsächlich noch Schäfer gibt. Nebenberufliche. Maier ist passionierter Pilger und fühlt sich daher den Hirten sehr nahe. „Pilger und Hirten müssen die Natur nehmen, wie sie kommt“, sagt Maier. „Wenn es regnet, dann regnet es. Wenn es schneit, dann schneit es. Wenn die Sonne brennt, dann brennt die Sonne.“ Auf die Dauer mache ein solches Leben gelassen. Und durchlässig. „Ein Hirte bemerkt die Zeichen früher als jemand, der wohl behaust und wohl behütet lebt.“

Womit wir bei den Schafen wären. „Wenn sie in Ruhe fressen dürfen, sind sie die glücklichsten und zufriedensten Tiere“, weiß Joachim Maier, der Kraichgau-Pfarrer. Das ändert sich jedoch schlagartig, wenn etwas Unerwartetes passiert. Dann gerät die Herde augenblicklich in Panik. „Die Schafe rennen kopflos in alle Richtungen davon und finden nie wieder zurück.“ Der Schäfer muss tagelang suchen, bis er all seine Tiere wiedergefunden hat. „Wenigsten erkennen die Schafe die Stimme ihres Hirten“, weiß Maier. „Wenn er nahe genug ist und ruft, dann kommen sie.“

Schafe brauchen einen Hirten. Sie können
sich nicht gegen Angriffe wehren.

„Eigentlich sind wir alle Hirten. Wir können auch nur im Hier und Jetzt leben.“

Für die Hirten im biblischen Zeitalter war das Leben natürlich deutlich härter als für heutige Hobbyschäfer. Schon weil ihre Herden viel größer waren. „Ein Hirte mit einer solchen Herde musste unentwegt weiterziehen“, überlegt Joachim Maier. Immer in der Angst, am nächsten Tag nicht genug frisches Gras für seine Tiere zu finden.

Pfarrer Maier kennt dieses Gefühl der Unsicherheit gut von seinen langen Pilgerwanderungen. „Irgendwann begreift man, dass alles Planen sinnlos ist. Das einzige, was gegen die Angst hilft, ist Vertrauen.“ Dass man nie gänzlich verlassen ist. Dass am nächsten Tag wieder von irgendwoher Brot kommen wird. Dass man beschenkt wird von Gott. „Eigentlich sind wir alle Hirten“, überlegt Pfarrer Maier. „Auch wir können nur im Hier und Jetzt leben. Und sollten jeden neuen Tag feiern wie ein Geschenk.“

Der Messias, der Retter der Welt, in einem Futtertrog. Eine abstruse Botschaft.

Die Hirten im Wandfresko der
katholischen Kirche von Zuzenhausen.

In der Heiligen Nacht auf den Feldern vor Bethlehem kümmerte sich niemand mehr um die Schafe. So wenig wie um die Philosophie. Die Hirten, allesamt kräftige Kerle, waren vollauf damit beschäftigt, ihre Knie davon abzuhalten, unkontrolliert zu schlottern. Was den Engel in keiner Weise anfocht. Er hatte eine Ansage zu machen: „Heute ist euch der Retter geboren. Ihr werdet ein Kind finden, das in einer Krippe liegt.“

Eine abstruse Botschaft. Der Messias, der Retter der Welt in einem Futtertrog! „Dieser Zusammenhang war selbst mit gesundem Hirtenverstand nicht zu verstehen“, vermutet Vincenzo Petracca. Die Hirten sind trotzdem aufgebrochen. Richtung Bethlehem.

„Sie müssen imenses Gottvertrauen gehabt haben“, staunt der Heidelberger City-Pfarrer. Joachim Maier aus Waibstadt vermutet, dass der Auftritt des Engels das Selbstbild der Hirten verändert hat. „Plötzlich waren sie die Auserwählten.“ Die Überbringer der göttlichen Botschaft an die Welt. Ohne Zögern, ohne Stern, ohne ein weiteres Wort sind sie losmarschiert.

„Das intensive Licht des Engels hat für die Hirten den Weg geleuchtet.“

„Das intensive Licht des Engels hat für die Hirten den Weg geleuchtet“, glaubt Vincenzo Petracca aus Heidelberg. „Sie haben es wahrscheinlich bis an das Ende ihres Lebens in ihrem Herzen mit sich getragen.“ Als Bollwerk gegen die Ablehnung der Gesellschaft. Und die Angst auf den dunklen Feldern.

Pater Alfred Delp war ein Mannheimer Jesuit. Am 31. Januar 1945 ist er von der Nazi-Diktatur ermordet worden. Sechs Wochen vor seiner Hinrichtung hat sich Delp in seiner Zelle Gedanken gemacht über die „Gestalten der Weihnacht“. Über die Hirten schrieb er: „Es geht hier um einen Menschentyp. Das könnten auch Bauern gewesen sein oder wandernde Gesellen.“ Einfache Leute eben, deren Leben „noch einen weiten Horizont hatte, und deren Seele noch warm wurde bei der Erinnerung an die alten Verheißungen“. Dass wir „Menschen des technischen Zeitalters“ je solche Hirten sein könnten, glaubte Alfred Delp nicht.

Für die Hirten war der Auftritt im Stall ein Heimspiel. Hier achtete niemand darauf, wie sie aussahen oder rochen.

Weit kann es nicht gewesen vom Weideplatz der Hirten bis zu dem Stall, in dem die heilige Familie Unterschlupf gefunden hatte. Pfarrer Joachim Maier vermutet, dass dieser Verschlag sogar außerhalb der Stadtmauer von Bethlehem gelegen haben könnte. Was tief symbolisch wäre. „Außerhalb der Stadt ist Jesus Christus gekreuzigt worden. Und außerhalb der Stadt wurde er geboren.“

Die „Hirtenmusik“ des
Krippenschnitzers Walter Ohlhäuser
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Für die Hirten jedenfalls war der Auftritt im Stall ein Heimspiel. Hier achtete niemand darauf, wie sie aussahen oder rochen. Die Atmosphäre im nächtlichen Stall stellen sich beide Pfarrer fröhlich und freundschaftlich vor. Weil sie schon so oft erlebt haben, dass zwischen armen Menschen einen extreme Solidarität herrscht. „Jeder gibt, was er hat. Und alle werden satt.“

Die Hirten waren die ersten, die der Welt die Weihnachtsbotschaft verkündeten. Gottesboten von den Feldern.

Vincenzo Petracca staunt darüber, welch wichtige Hauptrolle Gott den Hirten in der heiligen Nacht anvertraut hat. „Die Hirten sind die ersten, die der Welt die Weihnachtsbotschaft verkünden: Dieses Kind ist der langerwartete Messias. Das haben weder die Engel dem Volk von Bethlehem gesagt, noch Maria und Josef oder die Könige. Nein, die Hirten waren die Boten Gottes“.

Moderne Hirten in der „Krippe am Fluss“
in der Jesuitenkirche zu Heidelberg
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Wie lange mögen sie wohl im Stall geblieben sein, die Gottesboten von den Feldern? „Nicht lange“, schätzt Pfarrer Maier. Die Hirten hatten ja Verantwortung. Sie mussten zurück zu ihrer Herden. Lebensunterhalt verdienen. „Aber die heilige Nacht hat die Hirten sicherlich verwandelt“, denkt Maier. „Sie war ein extremer Glücksmoment, der ihr ganze weiteres Leben geprägt hat.“ Und vielleicht nicht nur das ihre. Dreißig Jahre später wird aus dem Kind in der Krippe ein Wanderprediger geworden sein, der sich selbst den „guten Hirten“ nennt …

Aber so weit sind wir noch nicht. Jetzt ist erst einmal Weihnachten. Wenn auch kein völlig sorgenfreies. Doch wer weiß. Vielleicht geht ja plötzlich die Tür auf. Und der Engel steht da. Allüberragend. Urgewaltig. Gefolgt von einer Horde zottiger Gesellen. Und alles ist anders.

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