Aufgeregt hat die Stimme von Helmut Schwier geklungen, damals am Telefon. Und überglücklich zugleich. Man solle doch mal kurz in der Peterskirche vorbeischauen, hatte der Heidelberger Universitätsprediger gesagt: „Das siebte Fenster von Johannes Schreiter ist gerade eingebaut worden.“ Damit war die Sensation perfekt: Die Heidelberger Universitäts-Kirche besaß jetzt einen kompletten Zyklus von modernen Schreiter-Fenstern, finanziert ausschließlich durch Spenden.
Und das auch noch genau rechtzeitig zum 625. Geburtstag der Ruperto Carola, zu dem sich 500 geladene Gäste in der Peterskirche versammeln würden. Dreizehn Jahre ist das jetzt her. Doch man erinnert sich, als sei es gestern gewesen. An den ersten Blick auf das überirdische Blau im „Tauffenster“. An die Hochzeit von Barbara und Johannes Schreiter in Peterskirche. Und das strahlende Gesicht von Professor Schwier. Er verabschiedet sich jetzt in den Ruhestand.
„Der Glauben ist die einzig wirksame Antwort auf die Angst.“
Hat irgendjemand Helmut Schwier schon grantig erlebt? Ärgerlich? Oder unfreundlich? Das ist schwer vorstellbar. Denn dafür besitzt der Ordinarius für Neutestamentliche und Praktische Theologie, viel zu viel Gottvertrauen. „Für mich ist der Glauben die einzige wirksame Antwort auf die Angst im Leben“, sagte Schwier in seiner Abschiedspredigt. „Jede Enge wird weit, wenn man beginnt, Gott zu vertrauen.“
Kein Wunder, dass die Peterskirche bei seiner Verabschiedung durch Landesbischöfin Heike Springhart aus allen Nähten platzte. Und bei Schwiers letzter Vorlesung soll es sogar Standing Ovations gegeben haben. Was allen akademischen Gepflogenheiten widerspricht. An der Universität klopft man eigentlich nur dezent mit dem Fingerknöchel auf die Bank.
In den Siebzigerjahren wurde von frühmorgens bis spät in die Nacht hinein diskutiert. Über Gott und die Welt.
In Minden in Westfalen ist Helmut Schwier geboren worden. 1959. Es war die Zeit des Babybooms. Damals ergaben sich die Nachmittagsaktivitäten der Kinder noch ganz von selbst. Weil die Familie Schwier treu evangelisch glaubten, engagierte sich der junge Helmut eben im Jugendkreis der Kirche. Dort er lernte die Trompete zu blasen, was er auch heute noch begeistert praktiziert.
„Aus meinem Jugendkreis in Minden sind acht Theologen hervorgegangen“, erzählt Helmut Schwier stolz. Das sei allerdings weniger der guten Arbeit des Pfarrers zu verdanken gewesen, sondern vielmehr dessen Empathielosigkeit. „Wir alle haben Theologie studiert, weil wir es besser machen wollten.“
Schwier entschied sich erst für Bethel im heimischen Westfalen, wechselte aber bald nach Heidelberg, weil er unbedingt promovieren wollte. Was sich als gute Idee erwies, denn Heidelberg war damals wohl die spannendsten theologische Fakultät Deutschlands. Von frühmorgens bis spätnachts wurde hier über Gott und die Welt diskutiert. Erst im Seminar, dann auf dem Fußboden in irgendeiner WG. „Es hat nie wieder eine so ausgeprägte Streitkultur in der Theologie gegeben wie zu meiner Studienzeit“, erinnert sich Schwier. Und nebenbei hat er auch noch sein Herz in Heidelberg verloren. An eine Medizinstudentin. Man traf sich im Zimmertheater. „Sie ist auf der Treppe gestolpert und mir direkt in die Arme gefallen.“
Die Heidelberger Universität besitzt die älteste Theologische Fakultät Deutschlands. Begründet 1386.
Irgendwo in der Peterskirche, niemand weiß genau wo, liegt Marsilius von Inghen begraben. Er war Theologe und der erste Rektor der Universität Heidelberg. Kurfürst Ruprecht I. hatte sie 1386 gegründet. Zu Beginn eines jeden neuen Semesters wurde damals ein neuer Rektor gewählt. Marsilius von Inghen brachte es auf stattliche neun Amtszeiten. Dafür verlieh man ihm die Ehrendoktorwürde, als erstem Theologen überhaupt. Seit 27. März 1896 ist die Peterskirche – inzwischen neugotische umgebaut – die Universitätskirche von Heidelberg. Sie befindet sich im Besitz der Stiftung Schönau.
Heute sind zwei Drittel der Theologie-Studierenden weiblich. Helmut Schwier findet das „sehr gut“.
1988 kehrte Helmut Schwier, inzwischen verheiratet und Vater von zwei Töchtern, ins heimische Westfalen zurück, um dort den praktischen Teil sein Ausbildung zu absolvieren. Die Familie zog nach Herford ins Eigenheim, wo Helmut Schwier jetzt im Ruhestand dauerhaft leben wird.
Die beiden Töchter sind längst erwachsen. Eine ist Opernsängerin und brillierte bei der Verabschiedung ihres Vaters mit einer Bach-Kantate. Die andere Tochter arbeitet mit autistischen Kindern. Theologie war für beide nie eine Option.
Dabei hätten sie gut in die Theologische Fakultät von Heidelberg gepasst, wo heute mehr als zwei Drittel der Studierenden weiblich sind. Helmut Schwier findet das sehr gut. Weil Theologiestudentinnen seiner Erfahrung nach nicht nur intellektuell hervorragend aufgestellt sind, sondern „darüber hinaus auch noch mitkriegen, was sozial und beziehungsmäßig läuft.“ Bei Männern könne man sich darauf ja nicht immer verlassen, scherzt der scheidende Professor.
„Die Universität braucht wieder eine echte Diskussionskultur!“
Dann wird er plötzlich ernst. In beunruhigt sehr die Entpolitisierung, die in den letzten zwanzig Jahren in der Theologischen Fakultät stattgefunden hat. „Meine Generation ist noch mit dem Anspruch angetreten, die Welt zu verbessern“, überlegt Schwier.
Da habe es die Debatte um die Nachrüstung gegeben, den Streit um die Atomkraft und die Forderung nach der gerechten Verteilung der Güter zwischen Nord und Süd. Doch dieser gesellschaftspolitische Anspruch sei komplett verschwunden, bedauert Schwier. „Heute ist jeder in seiner Blase unterwegs und sieht nur noch die Seite, die er sehen will.“
Eine echte Diskussionskultur wieder herzustellen, betrachtet Helmut Schwier daher als die wichtigste Aufgabe der Universität in den kommenden Jahren. Man müsse wieder lernen, live miteinander zu debattieren, ohne Angst, ohne Misstrauen und ohne Computer oder Künstliche Intelligenz. „Die Universität muss wieder der Vorreiter werden für ein gesellschaftliches Klima, in dem man fair mit dem Anderen umgeht, auch wenn er anderer Meinung ist“, fordert der Ordinarius für Praktische Theologie. Offene Diskussion sei die einzige sichere Abwehrstrategie gegen jede Form von Populismus.
Jahrelang sah man Schwier nur mit der Sammelbüchse, um Geld für die Schreiter-Fenster zu erbitten.
Am der 10. Oktober 2009 hat der 79-Jährige Glaskünstler Johannes Schreiter seiner zweiten Frau Barbara in Peterskirche das Ja-Wort gegeben. Damit endete eine tiefe Schaffenskrise des Glaskünstlers aus Langen bei Frankfurt, die durch den traumatischen Krebstod seiner ersten Ehefrau ausgelöst worden war. Und: Damit endete auch die Funkstille, die zwanzig Jahre lang zwischen Schreiter und Heidelberg geherrscht hatte, nachdem sein Entwurf für einen Fensterzyklus in der Heiliggeistkirche abgelehnt worden war.
Professor Theo Sundermeier war es, der 2005 den Anstoß gegeben hatte, dass die Theologische Fakultät Johannes Schreiter zum Doktor honoris causa ernannte. Womit die Weichen für den Schreiter-Zyklus in der Peterskirche gestellt waren.
Kostenlos waren die Schreiter-Fenster natürlich nicht zu haben. Jahrelang sah man Helmut Schwier, glühend begeistert von Sundermeiers Idee und Schreiters Entwürfen, nur noch mit der Sammelbüchse. Jeder kleine Cent wurde ebenso bejubelt, wie die reichlichen Spenden der großen Sponsoren. Und es gelang tatsächlich: Seit 2013 ist die Peterskirche ein Gesamtkunstwerk. Eine einmalige Kombination aus uralten Epitaphien, neugotischer Architektur und modernen Künstlerfenstern.
Die Trauerrede für die sinnlos ermordete Studentin war Helmut Schwiers schwerste Aufgabe.
„Die Peterskirche ist zentral wichtig für die ganze Universität“, definiert Helmut Schwier. „Weil sich hier die unterschiedlichsten Menschen aus den verschiedensten Fakultäten in immer wieder neuen Zusammenhänge treffen.“ Da gibt es Universitäts- und Fernsehgottesdienste, hochkarätige Konzerte, studentische Frühschichten, akademische Mittagspausen, aber auch Queergottesdienste und Techno-Nächte.
Und hier versammelt sich die Universität auch in den schweren Stunden, in denen Trost kaum zu finden ist. Wie damals im Januar 2022 als ein Amokläufer eine junge Studentin im Neuenheimer Feld sinnlos erschossen hat.
Der Trauergottesdienst fand in der Peterskirche statt. Professor Helmut Schwier übernahm die Predigt. Es war eine der schwersten Aufgaben seines Lebens. „Aber ich habe zu mir gesagt: Jetzt hast Du so viel studiert, gelehrt, geübt und geglaubt. Jetzt schaffst Du auch das. Irgendwie.“ So ist Professor Helmut Schwier.
Kurz vor Schluss kamen dann doch noch die Tränen.
Nur ganz am Schluss, kurz vor seiner Entpflichtung und Segnung durch die Landesbischöfin, kamen auch ihm die Tränen. „Es war am Ende meiner Abschiedspredigt in der Peterskirche, als mir plötzlich klar wurde, dass das jetzt das letzte Mal ist hier oben auf der Kanzel“, erinnert sich Schwier.
Doch dann hätten sich die Menschen der Reihe nach erhoben, um ihn segnen. Die Bischöfin, der Hochschulpfarrer, das Universitätskapitel, die Studierenden …
„Und plötzlich fühlte ich mich tief innerlich gestärkt für alles, was jetzt kommt.“