Lesen und schreiben konnte Karl der Große kaum. Dafür sprach er Latein ebenso fließend wie Fränkisch. Und: Er verstand es meisterlich, sein Manko zu kompensieren. Überall im riesigen Frankenreich gründete der Kaiser Klöster, in denen die Mönche nicht nur eifrig lasen und schrieben, sondern ihr Wissen auch der Welt zur Verfügung stellten.
Damit diese Verzahnung reibungslos funktionierte, ließ Karl sogar eine neue Schrift einführen: Zum ersten Mal in der Weltgeschichte wurden alle Worte aus nur 26 Buchstaben zusammengesetzt. Eine Sommerreise durch die Kirchengeschichte. An Beispielen aus der Region.
772: Die Erfolgsgeschichte von Kloster Lorsch beginnt auf einer Sanddüne mitten im Nichts.
„Wir, Karl, der Erlauchte, von Gottes Gnaden König der Franken, erkennen diese fromme Ordensgemeinschaft an, die nach der Regel des Heiligen Benedikt leben will. Sie soll wohnen unter Unserem Schutz und Schirm.“ Mit diesen Worten begann die Erfolgsgeschichte von Kloster Lorsch im Mai 772. Mitten im Nichts, auf einer gewaltigen Sanddüne unweit der wilden Weschnitz.
Zweihundert Jahre später war die Benediktinerabtei Lorsch das größte und wohlhabendste Kloster im riesigen Frankenreich. Eine geschäftige Stadt in tiefem Schweigen. Fromm, gelehrt, hochgeachtet. Mehr als 500 Jahre lang. Es ist schade, dass von all dieser Schönheit kaum etwas geblieben ist. Lediglich die Torhalle und ein Teil der Klosterkirche stehen noch zwischen den Lorscher Dünen. Doch wenn man die Augen schließt, kann man die Aura des Klosters noch erspüren. Dazu sollte man allerdings früh aufstehen. Denn Kloster Lorsch ist stets rege besucht.
827: Die Einhards-Basilika in Michelstadt ist die älteste nördlich der Alpen.
Wie auch der zweite Urort unserer Region: Die Einhards-Basilika in Michelstadt, erbaut 827. Sie ist die älteste erhaltene Basilika nördlich der Alpen – und ein Besuchermagnet. Einhard war Dichter am Hof Karls des Großen in Aachen. Und er war einer der gebildetsten Menschen seiner Zeit, was ihm das Vertrauen des Kaisers eintrug. Nach Karls Tod verfasste Einhard die „Vita Karoli Magni“. Weltliteratur.
Zum Dank erhielt er vom neuen König Ludwig den Flecken Michelstadt im Odenwald, damals noch undurchdringlicher Dschungel. Die Basilika, die Einhard hier als Grablege bauen ließ, ist ein hoher, mystischer Raum. Architektur pur. Nur zu Grabe liegt Einhard hier nicht. Eines Nachts träumte ihm, dass die beiden Heiligen-Skelette, die er aus Rom importiert hatte, sich in Michelstadt nicht wohlfühlen. Kurzerhand ließ Einhardt noch eine zweite Kirche bauen, in Seligenstadt.
896: Die berühmten ottonischen Wandmalereien von Insel Reichenau gibt es auch im Odenwald.
Mehr Glück mit ihrer Reliquie hatten die Benediktiner auf der Insel Reichenau im Bodensee. Sie besaßen das Haupt des Heiligen Georg, um das herum sie 896 eine ottonische Kirche bauten. Das Gotteshaus war einst komplett ausgemalt, doch die Wandmalereien wurden irgendwann übertüncht. Bei der Freilegung im 19. Jahrhundert ging sehr viel verloren, was Ludwig Maier, damals der Leiter des Erzbischöflichen Bauamts in Heidelberg, maßlos ärgerte.
Kurzerhand ließ er die uralten Bilder von einem Kunstmaler abpausen, vervollständigen und auf die Wände der katholischen Kirche von Rittersbach im Odenwald aufbringen. In Originalgröße. Jetzt gibt es die Reichenauer Kirche doppelt – am Bodensee und an der Elz.
1274: : Die romanische Klosterkirche Bad Wimpfen wird zum gotischen Lichtermeer.
Der Übergang von der Romanik zur Gotik war der größte Quantensprung der Architekturgeschichte: Statt finsterer Gotteshöhle plötzlich strahlendes Himmelslicht. Nirgendwo kann man diesen Gegensatz so hautnah erleben wie in der Klosterkirche Bad Wimpfen.
965 wurde das riesige Gotteshaus erbaut. Als trutziges romanisches Bollwerk mit schmalen Lichtschlitzen. Eine stille, eiskalte Welt des Gebets.
Doch je weiter man in die Stiftskirche vordringt, desto heller wird sie. Schritt für Schritt verwandelt sich das Kirchenschiff in ein Lichtermeer, das Pariser Baumeister im 13. Jahrhundert geschaffen haben. Mit schlanken bunten Fenstern und lebensechten Heiligenfiguren auf dem gotischen Südportal. Ein Meisterwerk.
1400: Die Schiffe vom Heiliggeist in Heidelberg schweben schwerelos zum Himmel hinauf.
Die Stiftskirche in Wimpfen wird an Schönheit nur noch übertroffen von der Königin aller gotischen Kirchen in der Region: Der Heiliggeistkirche in Heidelberg, erbaut 1400. Wer Heiliggeist an einem hellen Vormittag betritt, spürt den Sog, der von ihrem Chor ausgeht. Da will man hin. Sich umhüllen lassen vom Licht, das durch die zwölf hohen Fenster strömt. Die drei riesigen Schiffe von Heiliggeist scheinen schwerelos zum Himmel hinauf zu schweben. Mehr Gotik geht nicht.
Nur die Proportionen in der Heiliggeistkirche stimmen nicht so ganz. Die beiden Seitenemporen sind so mächtig, dass sie das Mittelschiff optisch zusammendrücken. Heute macht diese Massivität keinen Sinn mehr. Im Mittelalter jedoch stand auf den Emporen die „Bibliotheca palatina“, die größte Bibliothek der Welt. Die Bayern haben sie im Dreißigjährigen Krieg geraubt und nach Rom gebracht. Doch bald soll die Palatina auf die Emporen von Heiliggeist zurückkehren. In digitaler Form.
1517: Schon vor Luthers Thesen führt Neckarbischofsheim im Kraichgau die Reformation ein.
Wann hat die Neuzeit begonnen? Mit Kopernikus? Mit Kolumbus? Mit Gutenberg? Für die Menschen in Neckarbischofsheim im Kraichgau ist die Sache klar: Die Neuzeit begann, als Martin Luther in ihre Kirche kam. Nicht leibhaftig natürlich, das wüsste man. Sondern als lebensechtes Schnitzwerk exakt in der Mitte der Kanzel in der lutherischen Kirche.
Schon im Frühjahr 1517 – also noch vor dem Thesenanschlag – hatte Freiherr Philipp von Helmstatt in Neckarbischofsheim die Reformation eingeführt. Und mit dem Bau der lutherischen Kirche in der Ortsmitte begonnen.
Als das Gotteshaus fertig war, glaubten die Menschen, ihren Augen nicht zu trauen: Vor ihnen stand ein Wunderwerk der Renaissance. Die Portale sind elegant geschweift, die Wände schmücken Blümchen, Schleifen, Voluten, Inschriften, wohin man auch sieht. Und in dem schönen Gewölbe leuchtet unübersehbar die Luther-Rose.
1760: Eine Flut goldenen Lichts ergießt sich über die barocke Pracht der Mannheimer Jesuitenkirche.
Das 18. Jahrhundert brachte einen radikalen Paradigmenwechsel.Die Truppen des französischen Sonnenkönigs hatten die Kurpfalz verheert. Die reformierten Wittelsbacher waren ausgestorben. Die neuen Kurfürsten glaubten streng katholisch. Was die Kurpfälzer ab sofort auch wieder tun sollten. An jeder Ecke wurden Madonnen installiert, allesamt im überschwänglichen Stil des Barock. Der Kurfürst residierte nun in Mannheim, zu jener Zeit eine der prachtvollsten Städte der Welt – mit dem größten Schloss Deutschlands.
Direkt daneben war eine Kirche in die Höhe gewachsen, deren Glanz alles Dagewesene in den Schatten stellte. Wie ein Wasserfall ergoss sich goldenes Licht über den gewaltigen Hochaltar der Mannheimer Jesuitenkirche.
Auf ihrer Decke und den Wänden wimmelte es nur so von Heiligen, Engeln und Allegorien. Sie wurden beschirmt von einer majestätischen Kuppel, die direkt in den Himmel hineinzuführen schien. Ein barocker Rausch für die Sinne.
Das ist die Jesuitenkirche in der Quadratestadt heute noch immer, wenn auch leider nichts von ihrem Glanz mehr echt ist. Die Bomben des Zweiten Weltkriegs haben das Gotteshaus komplett zerstört. Nach dem Krieg entschied man sich für eine Nachschöpfung. Elf Jahre dauerte es, bis das Strahlen des „Barock“ in die Quadratestadt zurückgekehrte.
1841: Der Klassizismus bringt die Eleganz eines griechischen Tempels nach Eberbach.
Mit der Aufklärung verschwanden die goldenen Putten, und die kühle Klarheit der Antike kehrte zurück. Man sehnte sich jetzt nach der Ruhe dorischer Säulen und der Eleganz griechischer Tempel. Die evangelische Michaelskirche in Eberbach besitzt beides. Hoch aufgerichtet blickt ihr quadratischer Turm seit 1841 über den Marktplatz hinweg. Der weite, helle Kirchenraum ist fein gegliedert durch zwei Säulenreihen, die die Empore tragen. Und die Orgel schwebt schwerelos über dem Eingang. Mehr Klarheit geht nicht. Mehr Protestantismus auch nicht. Der ideale evangelische Kirchenraum war endlich gefunden. So schien es jedenfalls.
Doch der Mensch ist ein wankelmütiges Wesen. Nicht einmal hundert Jahre später die komplette Kehrtwendung: Statt klassizistischer Klarheit jetzt der Überschwang des Jugendstils. Womit wir wieder an der Weschnitz wären. Diesmal in Weinheim.
1912: Die Peterskirche in Weinheim ist außen eine Gottesburg, innen ein Jugendstil-Wunderland.
Wuchtige, raue Sandsteinquader türmen sich hier auf zu einer trutzigen Kirchenburg mit Zinnen und Erkern. Die evangelische Peterskirche von Weinheim ist außen ein Bollwerk Gottes und innen ein Wunderland des Jugendstils.
Zarte Kacheln, filigrane Glasmalereien, märchenhafte Fabelwesen – wohin man auch sieht. Selbst die Orgel schwebt unter einem Sternenhimmel. Und das alles in gewaltigem Maßstab: Die Peterskirche fasst 1300 Gläubige, und ihre Kuppel strebt zwölf Meter hoch hinauf zum Himmel. 1912 war die Kirche vollendet. Zwanzig Jahre später ergriffen die Nationalsozialisten die Macht.
1972: Der neue Sichtbeton erschuf Kirchen wie Skulpturen. St.Paul gleicht einer Gotteshöhle.
Der Zweite Weltkrieg hinterließ ein traumatisiertes Land, das sich nach Wahrheit und Klarheit sehnte. Beides glaubte man in einem neuen, völlig unprätentiösen Werkstoff zu erkennen: Im Beton. Eine der spannendsten Betonkirchen steht seit 1972 am Westhang des Königstuhlmassivs.
Von außen wirkt St. Paul auf dem Heidelberger Boxberg archaisch, spröde, fast abweisend: Ein fensterloser Bau aus geschaltem Sichtbeton, den man durch einen dunklen Schacht betritt. Doch nach einer Kehre wird es urplötzlich taghell. Man steht am oberen Ende einer Art Amphitheater.
Flache Stufen mit schlanken Bänke führen hinab zum Altar, dem Mittelpunkt der Kirche. Beleuchtet wird St. Paul nur durch indirektes Licht von oben. Wie eine Gotteshöhle.
2022: St. Pius in Mannheim-Neuostheim ist die erste komplett ökumenische Kirche.
St. Paul war eine der letzten Kirchen, die noch neu gebaut wurden. Heute würden beide Konfessionen gern fast die Hälfte ihrer Gotteshäuser abgeben, weil sie nicht mehr gebraucht werden. Doch neue Nutzungsmöglichkeiten für Kirchen sind rar. Das bislang überzeugendste Projekt steht mit St. Pius in Mannheim-Neuostheim. 1955 erbaut, ist St. Pius eine moderne, rechteckige katholische Kirche aus Stahlbeton, federleicht zwar, aber eher unspektakulär.
Heute ist St. Pius die erste echte Ökumenekirche in Baden. Katholiken, Protestanten und das „Ostkirchliche Zentrum“ nutzen das Gotteshaus seit einigen Jahren gemeinsam und gleichberechtigt. Die Wände schmücken Ikonen. Auf dem gemeinsamen Altar liegt die Lutherbibel. Und vor dem Tabernakel steht der Taufstein als zentrales Zeichen der Ökumene. Denn Taufe ist das einzige Sakrament, das alle Konfessionen anerkennen. Ein Gott, ein Glaube, ein Kirchengebäude. Willkommen in der Zukunft.