Weihnachten übersieht niemand. Weil überall Engel flattern, Sterne funkeln, und das göttliche Kind aus tausend Krippen lächelt. An Ostern künden Hasen und bunte Eier von der Auferstehung Jesu Christi. Nur Pfingsten, das dritte Hochfest der Christenheit, besitzt keinerlei Rituale. Niemand lädt am Fest des Heiligen Geistes die Großfamilie ein, kein Mensch bastelt Flammenzungen aus Glitzerfolie oder backt Windbeutel.
Selbst in den Kirchen geht es eher schlicht zu. „Als Ministrant war ich richtig enttäuscht von meinem ersten Pfingstgottesdienst“, erinnert sich Michael Gartner, der designierte Leiter der künftigen katholischen Großpfarrei Mosbach-Neckarelz. „Wir Minis hatten nicht mehr zu tun als an einem ganz normalen Sonntag.“ Eine Suche nach dem Geheimnis des Pfingstfestes.
Jesus ist aufgefahren in den Himmel, sagten die Leute. Was auch immer das bedeuten sollte.
Vierzig Tage lang, so berichtet die Bibel, hat Jesus nach seiner Auferstehung noch auf der Erde gelebt. Doch das Verhältnis zu seinen Jüngern war nicht mehr dasselbe wie früher. Jesus erschien nur noch sporadisch, gab sich geheimnisvoll und distanziert. Er erklärte wenig, sprach in Rätseln, und verschwand eines Tages ebenso mysteriös, wie er zurückgekommen war. „Er ist aufgefahren in den Himmel“, sagten die Leute. Was auch immer das bedeuten sollte.
Zurück blieb eine kleine christliche Gemeinde, die geschockt im oberen Stockwerk eines schmalen Häuschens in Jerusalem saß – während draußen der Bär tobte. Man feierte „Shawuot“, das rauschende Erntedankfest der Juden, zu dem alljährlich Tausende von Menschen in die Metropole drängten.
Doch diesmal wurde die Party jäh unterbrochen, weil ein gewaltiges Unwetter aufzog. Blitze zuckten, Donner grollte, Staubteufel fegten wirbelnd durch die Straßen …
Fluoreszierende Feuerzungen fielen vom Himmel. Die Jünger stürzten hinunter auf die Straße. Tanzten, lachten, sangen, feierten.
„Nach der Himmelfahrt Jesu fühlten sich die Jünger wie gelähmt“, überlegt Pfarrer Michael Gartner, der derzeit noch die katholische Seelsorgeeinheit Elztal-Limbach-Fahrenbach leitet. „Und sie hatten große Angst, denn die römischen Soldaten waren mit Verhaftungen rasch bei der Hand.“
Doch dann kam der Sturm – und alles war anders. Fluoreszierende „Feuerzungen“, so erzählt das Lukas-Evangelium, fielen vom Himmel und ließen sich auf den Köpfen der Menschen nieder. Alle Furcht verschwand, die Jünger begannen zu jubeln.
Sie stürzten hinaus auf die Straße, umarmten wildfremde Menschen, tanzten, sangen, lachten, feierten. „Es war Begeisterung im wahrsten Sinne des Wortes“, so Gartner. „Besser kann man die Wirkung des Heiligen Geistes nicht beschreiben.“
Ursprünglich sprachen alle Menschen dieselbe Sprache. Doch dann wollten sie einen Turm bauen. Bis hinauf zum Himmel.
Uwe Boch ist promovierter evangelischer Theologe und Pfarrer in Walldorf. Er kleidet sich gern lässig in Schwarz und spielt Rockgitarre. Sein nächster Jugendgottesdienst umkreist die Rockhymne „Nothing else matters“ von Metallica.
Beim Thema Pfingsten fällt Boch sofort der Turmbau zu Babel ein. „Die Parallele springt ja direkt ins Auge“, findet der Walldorfer Pfarrer. Tatsächlich erzählt das Buch Genesis, dass alle Menschen ursprünglich dieselbe Sprache sprachen. Bis sie auf die Idee verfielen, einen Turm in den Himmel zu bauen. Sie wollten sein wie Gott. Was ihnen schlecht bekommen ist. Denn Gott verwirrte ihre Sprachen, so dass niemand mehr den anderen verstand. „An Pfingsten“, sagt Uwe Boch, „hat Gott uns die Hand zur Versöhnung gereicht.“ Dank des Heiligen Geistes können die Menschen einander wieder verstehen. Sie müssen es nur wollen.
Die Atmosphäre war wie elektrisch aufgeladen. Und plötzlich begannen die Jünger zu sprechen. Mit wilden Gesten und erhobener Stimme.
So überraschend wie der Pfingststurm über Jerusalem hereingebrochen war, so schnell verzog er sich wieder. Zurück blieb ein leichtes Fiepen, als sei die Atmosphäre elektrisch aufgeladen. Und eine kaum wahrnehmbare Verfärbung der Luft. Pink, violett, rot, orange. Plötzlich begannen die Jünger Reden zu halten. Sie priesen Gottes große Taten, gestikulierten wild, jauchzten mit erhobener Stimme, um im nächsten Moment zu flüstern. Was bei den Menschen auf der Straße nicht wirklich gut ankam. „Sie sind betrunken vom süßen Wein“, spottete manch einer.
„Der Heilige Geist ist immer ein Geist der Kommunikation“, konstatiert Boch. „Er wirkt ausschließlich dort, wo Menschen einander begegnen.“ Diakonische Einrichtungen beispielsweise sprühten geradezu vor Heiligem Geist. Aber auch die Gemeinden könnten viel mehr von des Geistes Kraft profitieren, wenn sie sich nur trauten, die Sicherheit ihres engen Zirkels zu verlassen. „Wir müssen wieder raus auf die Straße wie die Apostel“, fordert der Walldorfer Pfarrer. „Dorthin, wo die Menschen sind.“ In Walldorf etwa sitzen derzeit alle im Spargelzelt, also findet der Sonntagsgottesdienst jetzt auch genau dort statt. Ökumenisch, mit Posaunenchor und Band. „Und hinterher freut sich auch der Wirt, weil noch mehr Leute Spargel essen.“
Demnächst will sich Uwe Boch noch ein Lastenfahrrad anschaffen und eine „Kirche-to-go“ gründen. Es sei ihm ein großes Anliegen, Gottes Segen zu allen Menschen zu bringen: „Der Heilige Geist beschütze Dich! Der Heilige Geist sei bei Dir! Der Heilige Geist geleite Dich!“ So geht Pfingsten.
Im Handumdrehen sprachen und verstanden die Jünger die exotischsten Sprachen. Wie soll das funktionieren?
Michael Gartner in Limbach, dessen Pfarrhaus direkt neben der wohl avantgardistischsten Kirche des Odenwalds steht, hat sich als Schüler immer überlegt, wie es sein konnte, dass die Jünger im Handumdrehen so viele verschiedene Sprachen gelernt haben. Tatsächlich berichtet die Apostelgeschichte von Gesprächen mit Kretern, Parthern, Elamitern, Phrygiern, Pamphyliern und vielen Nationen mehr. All diese Zungenbrecher sind nicht wirklich notwendig für die Erzählung. „Aber sie sorgen dafür, dass wir die Menschen nicht als amorphe Masse wahrnehmen, sondern als sehr unterschiedliche Individuen“, erklärt Pfarrer Gartner.
An Pfingsten 2024 hingegen sind die meisten Menschen nur noch wegen ihres Urlaubs aufgeregt, beobachtet Pfarrer Uwe Boch. Dabei gäbe es gerade jetzt so viele offene Fragen, bei denen man die Hilfe von Gottes Geist dringend brauchen könnte: Wie schafft man Frieden in Palästina? Wie steht die Kirche zu den Waffenlieferungen in die Ukraine? Wie stoppt man die Missachtung der Menschenrechte im Iran? „Pfingsten ist die Aufforderung Gottes an uns alle, so lange miteinander zu sprechen bis wir Lösungen gefunden haben“, meint Boch.
Mehr als 3000 Menschen ließen sich beim ersten Pfingstfest in Jerusalem taufen.
In Jerusalem im Jahr 30 hatte sich schnell eine Menschenmenge um die glühenden Jünger gebildet. Man staunte darüber, dass die „Christen“, plötzlich alle Menschen verstanden. Und man betrachtete ungläubig die lockere Furchtlosigkeit mit der sie neuerdings agierten.
Da trat plötzlich Petrus vor und hielt die Rede seines Lebens. Gott, sagte der ehemalige Fischer, habe seinen Geist ausgegossen über allen Menschen. Alle seien jetzt seine Propheten. Frauen wie Männer, Alte wie Junge, Knechte wie Herren. „Als die Menge das hörte“, schreibt der Chronist Lukas, „traf es sie mitten ins Herz.“ Mehr als dreitausend Menschen ließen sich an Pfingsten taufen.
Diese Passage der Pfingst-Geschichte sei für ihn derzeit ungeheuer wichtig, gesteht Michael Gartner. Weil sie eine Art Handlungsanweisung für die Neustrukturierung des Erzbistums Freiburg darstelle. „Wir können nicht einfach die Hände in den Schoß legen und so weitermachen wie bisher“, sagt Gartner. Weil die Kirche dann zwangsläufig immer kleiner und immer uninteressanter würde.
„Wenn wir hingegen die Kraft haben, manche Bereiche aktiv aufzugeben, dann hilft uns der Heilige Geist dabei, Neues aufzubauen und Zukunft zu schaffen.“ Die Apostel, so Gartner, hatten den Mut, loszulaufen und das, was sie vom Evangelium verstanden hatten, auf die Straße zu tragen. Und so sei mit Gottes Hilfe aus einer kleinen Gruppe von jüdischen Fischern eine riesige Kirche geworden, die die ganze Welt umspannt.
„Wir brauchen Gottesdienste, in denen die verschiedensten Gruppen der Gesellschaft einander zuhören und von einander lernen.“
Pfarrer Boch in Walldorf glaubt, dass der Heilige Geist, wenn man ihn wirken ließe, die Badische Landeskirche noch radikaler umbauen würde, als das momentan geplant ist. „Wir brauchen nicht für jede noch so kleine Zielgruppe ein spezielles Format“, findet er. „Sondern wir brauchen Gottesdienste, die es ermöglichen, dass die verschiedensten Gruppen unserer Gesellschaft einander zuhören, einander ernst nehmen, einander respektieren und von einander lernen.“ Pfingsten als Hochfest des Mutes. Vielleicht ist das Fest ja deshalb so unpopulär, weil Mut furchtbar anstrengend ist.