Sag mir, wo die Sänger sind

Kein Gesang in den Kirchen.
Was macht das mit den Menschen?

Die Hiobsbotschaft kam ausgerechnet am Sonntag „Kantate“. Zu deutsch: „Singt!“ Doch genau das war seit jenem vierten Sonntag nach Ostern 2020 in den Gottesdiensten verboten. Die Gläubigen durften sich zwar versammeln, mit Abstand und Mundschutz. Aber die Gesangbücher blieben unter Verschluss. Mehr als ein Jahr lang. Selbst an Weihnachten.

Niemand hätte das je für möglich gehalten. Was hat die Stummheit mit den Menschen gemacht? Was mit den Gottesdiensten? Den Kantoren? Den Kirchenchören? Eine Suche nach den verlorenen Liedern. Jetzt, da sie langsam zurückkehren. Unter der Maske.

„Meine Chöre haben im zweiten Lockdown überhaupt nicht aufgehört zu proben“, sagt Michael Braatz-Tempel, der evangelische Bezirkskantor von Heidelberg. „Wir haben die ganze Zeit weiter gesungen.“ Digital. Via Zoom.

„Während die Kinder im Wohnzimmer probten, polterte die ganze Familie um sie herum.“

Michael Braatz-Tempel ist
evangelischer Bezirkskantor in Heidelberg.

Braatz-Tempel saß in der Handschuhsheimer Friedenskirche am Flügel und intonierte den Chorsatz. Die Sänger standen zuhause vor den Bildschirmen und sangen ihre Stimmen dazu. Wieder und wieder. Mit Hingabe und Geduld. Obwohl sie nur sich selbst hörten und ihre Mitsänger nur auf winzigen Bildschirmkacheln sehen konnten.

Die Geschichte wird umso erstaunlicher, wenn man weiß, dass der Schwerpunkt von Braatz-Tempel auf den Kinderchören liegt. Für fast jede Altersstufe bietet der Kantor einen Chor an. „Weil die meisten Kinder am Computer im Wohnzimmer probten, polterte oft die ganze Familie um die kleinen Sängerinnen und Sänger herum“, berichtet der Kantor. „Sich unter solchen Umständen zu konzentrieren, das war nicht ohne.“

Aber die Anstrengung hat sich gelohnt, findet Michael Braatz-Tempel. Durch den Alleingang hätten die Kinder an Mut gewonnen und könnten ihre Stimme jetzt viel besser einschätzen. „Fast alle haben durchgehalten und sind jetzt wieder begeistert bei den Live-Proben dabei.“

„Wenn man Menschen, die stumm bleiben müssen, auch noch Stück vorsingt, die sie auswendig können, bestraft man sie doppelt.“

Glücklichere Zeiten.
Heute probt man am Computer
.

Markus Uhl, der katholische Bezirkskantor in den Dekanaten Heidelberg-Weinheim und Wiesloch, hat digitale Proben nur von Januar bis März angeboten. Als man sich überhaupt nicht treffen durfte. Für ihn sind Zoomproben nur „Krücken“, die „nicht einmal ansatzweise“ an Präsenzproben heranreichen. „Der akutstische und physische Kontakt beim Chorsingen ist durch nichts zu ersetzen“, findet Uhl.

Weshalb der katholische Kantor seinen großen Chor schon nach der ersten Welle in viele kleine „Corona-Ensembles“ aufgeteilt hat, mit denen er die Gottesdienste gestaltete. In dem riesigen Chorraum der Heidelberger Jesuitenkirche waren die Abstandsregeln leicht einzuhalten, berichtet Uhl. „In kleineren Kirchen ist das natürlich viel schwieriger.“

Über das Repertoire seiner „Corona-Ensembles“ hingegen hat Markus Uhl lange gegrübelt. Weil er alle bekannten und beliebten Lieder aussparen wollte. „Wenn man Menschen, die stumm bleiben müssen, auch noch Stücke vorsingt, die sie auswendig können, bestraft man sie doppelt“, findet der Heidelberger Kantor. Es sei denn, man lässt sie wenigstens mitsummen. Das funktioniert allerdings nur bei leiseren Liedern wirklich gut funktioniert. Uhl: „Die gesummte zweite Strophe von ‚Stille Nacht‘ in der Christmette war ein echter Gänsehaut-Moment.“

Markus Uhl, katholischer Bezirkskantor in Heidelberg.

Jeden Tag lagen neue Abmeldungen von den Kinder- und Jugendchören im Briefkasten.

In der evangelischen Friedenskirche zu Handschuhsheim haben die Solosänger aus Solidarität mit der Gemeinde sogar ihre Masken aufbehalten. „Mit einfachen medizinischen Masken kann man problemlos singen“, findet Michael Braatz-Tempel. „Nur unter den FFP2-Masken kriegt man bald keine Luft mehr.“

Eiskalt erwischt hat das Gesangsverbot den neuen Kantor des Kirchenbezirks Neckargemünd-Eberbach. Andreas Fauß war gerade erst mit seiner Familie aus Thüringen an den Neckar übersiedelt, als die Stille in den Kirchen Einzug hielt. „Ich hatte keine Chance, meine Chöre kennenzulernen“, bedauert Fauß. In seinem ersten Jahr in Eberbach hat der Kantor deshalb vor allem die Orgeln inspiziert. „Was ja auch zu meinen Aufgaben gehört.“ Und er hat es ausgehalten, dass jeden Tag neue Abmeldungen von den Kinder- und Jugendchören im Briefkasten lagen.

Entsprechend überschaubar waren die Gruppen, die vor etwa vier Wochen erstmals wieder zur Probe erschienen. Im weitläufigen evangelischen Gemeindehaus von Eberbach. Unter strengsten Hygiene-Auflagen und aktuell getestet. Die Freude der jungen Sänger, dass es endlich wieder losgeht, sei so riesig gewesen, berichtet Fauß, dass ihm um die Zukunft der Chöre nicht bange sei. „Die Chöre sind momentan wie Pflanzen, die einst prächtig geblüht haben und jetzt nach langer Trockenheit wieder aufgepäppelt werden müssen“, definiert Fauß. Dafür brauche es Zeit und Geduld. „Beides habe ich.“

Andreas Fauß, der evangelisch Bezirkskantor von Neckargemünd-Eberbach.

Chöre mit einem hohen Durchschnittsalter werden es besonders schwer haben, auf das Vor-Corona-Level zurückzukehren.

Sein Heidelberger Kollege Michael Braatz-Tempel hatte „insgeheim“ sogar befürchtet, dass Corona den Sterbeprozess der Chöre beschleunigen wird. Vor allem im ländlichen Bereich. „Aber das ist nicht passiert.“ Gott sei Dank.

Aber natürlich hat das Jahr des Schweigens die Sänger verändert. „Das ist wie im Sport“, sagt Markus Uhl. „Man verliert seine Kondition.“ Das trifft alle Chöre. Doch jene mit einem hohen Durchschnittsalter werden es wahrscheinlich besonders schwer haben, auf das Vor-Corona-Level zurückzukehren, befürchtet Uhl. „Da wird es sinnvoll sein, dass der Chor sein Repertoire anpasst.“

Andreas Fauß aus Eberbach lässt momentan sogar die renommierte Eberbacher Kantorei sehr viele Übungen zur Stimmbildung machen. „Singen erfordert ein komplexes Zusammenspiel von Muskeln“, erklärt der neue Kantor des Kirchenbezirks Neckargemünd-Eberbach. „Diese Muskeln sind eineinhalb Jahre nicht trainiert worden.“

Das Problem, unter dem die Chöre am meisten leiden, ist die Abstandsregel. Zwei Meter rund um jeden Sänger.

Unter FFP2-Masken kriegen die Sänger schon sehr bald keine Luft mehr.

Da ist es gut, dass die Chorleiter momentan geradezu glühen und sprühen vor Motivation. Das zumindest beobachtet Michael Braatz-Tempel aus Handschuhsheim. Was wohl auch daran liegt, dass sowohl die Badische Landeskirche wie auch das Erzbistum Freiburg alle Chorleiter und Organisten über die gesamte stille Zeit hinweg voll bezahlt haben. Im Kulturbereich, der während der Pandemie völlig verelenden musste, war das eine absolute Ausnahme. Braatz-Tempel: „Es hat Monate gegeben, da waren die Kirchen die einzigen Orte, an denen man noch Musik machen und hören konnte.“

Was eine große Welle der Solidarität zwischen den Kirchenmusikern und ihren freischaffenden Kollegen ausgelöst hat. „Ich habe in den Corona-Gottesdiensten ungewöhnlich viele Projekte mit Profimusikern gemacht“, sagt Markus Uhl. Der einzige Weg, den Kollegen, deren Einkünfte weggebrochen sind, eine Gage zu verschaffen. Michael Braatz-Tempel hat an der Handschuhsheimer Friedenskirche sogar eine Spendeaktion für selbständige Musiker ins Leben gerufen. Mit großem Erfolg. „Wir konnten zu fast jedem Gottesdienst Solisten einladen, die gesungen, gegeigt oder Klarinette gespielt haben. Und wir konnten diese Künstler auch ordentlich bezahlen.“

Kirchen waren in Corona der einzige Ort,
wo Sänger noch auftreten konnten
.

Das wäre ein schöner Schlusssatz gewesen. Wenn die Corona-Pandemie tatsächlich hinter uns läge. Das tut sie aber nicht. „Wir sind da noch nicht ansatzweise heraus“, befürchtet Markus Uhl, der katholische Bezirkskantor von Heidelberg. „Das größte Problem, unter dem die Chöre am meisten leiden, ist die Abstandsregel.“ Zwei Meter vor, hinter, rechts und links von jedem Sänger schreibt die Corona-Ordnung der beiden großen Kirchen vor. „Wie soll man denn damit ein Oratorium aufführen?“, seufzt Andreas Fauß aus Eberbach. „Da ist ja schon die halbe Kirche mit Sängern voll.“

„Wenn der hinterste Sänger 25 Meter von mir weg steht. Das ist nicht mehr dirigierbar.“

Er habe jetzt zwar angefangen, Mozarts Requiem zu proben, sagt der Eberbacher Kantor. „Aber ich glaube nicht, dass wir das in diesem Jahr noch aufführen werden.“ Was ja auch kein Beinbruch sei. „Schon allein die Probe eines solchen Werkes bringt enorm viel Spaß und richtet die Menschen innerlich auf.“ Selbst wenn man weiß, dass man es erst im kommenden Jahr aufführen wird. „Vielleicht führen wir im nächsten Jahr sogar mehrere Werke auf“, überlegt Fauß. Zudem sei für 2022 ein Bezirkskirchentag in Eberbach geplant.

Auf jedes Lied folgt sofort der Griff zur Maske.

Im Chorraum der Jesuitenkirche sei wirklich sehr viel Platz, sinniert auch Markus Uhl aus Heidelberg. „Aber das hilft ja nichts, wenn die hintersten Sänger 25 Meter von mir weg stehen. Das ist nicht mehr dirigierbar.“ Auch für die Sänger sei der Zwei-Meter-Abstand eine akustische Katastrophe. Weil er eine „sinnvolle musikalische Kommunikation“ verhindert. „Man muss sich enorm konzentrieren, seine Nachbarin oder seinen Nachbarn zu hören, um rhythmisch beieinander zu bleiben.“ Diese Anstrengung stört den leichten, harmonischen Gesamtklang, sagt Bezirkskantor Markus Uhl. „Bevor die Abstandsregel nicht fällt, kann von musikalischer Normalität keine Rede sein.“

Wenn viele Menschen in einer Kirche das gleiche Lied anstimmen, das ist wahre Gemeinschaft.“

Immerhin dürfen inzwischen wenigstens die Gottesdienstbesucher wieder singen. Wenn auch mit Maske. „Es war ein bewegender Moment, als ich an Fronleichnam die Gemeinde endlich wieder gehört habe“, gesteht Uhl. Allerdings merke man auch diesen Stimmen das fehlende Training an. „Ich bin momentan sehr vorsichtig und lasse selten mehr als zwei Strophen am Stück singen.“

Die guten alten Zeiten: Ein Konzert in der Friedenskirche vor Corona.

Als in der Friedenskirche zu Handschuhsheim erstmals wieder Gemeindegesang erklang, „ist so manch ein Tränchen gekullert“, berichtet Michael Braatz-Tempel. Der Bezirkskantor kann diese Rührung gut nachvollziehen. „Wenn man mit vielen Menschen in einer Kirche sitzt und alle stimmen das gleiche Lied an, dann gehen nicht nur die Münder auf, sondern auch die Ohren und die Herzen.“ Das sei wahre Gemeinschaft und ein großer Wert für die Kirchen, sagt Braatz-Tempel. „Das kommt wieder. Und das bleibt auch.“

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