Da ist sie wieder, diese Forderung. Im Jahr der Virus-Angst tönt sie sogar lauter: Schafft den Religionsunterricht ab! Glauben ist Privatsache. Reli verstopft nur die Stundenpläne. Und zerstört den Abstand zwischen den Klassen, in denen sowieso nur noch die Hälfte der Schüler getauft ist. Wenn überhaupt.
Merkwürdigerweise werden aber gleichzeitig die Wartelisten an evangelischen und katholischen Schulen immer länger. Und an staatlichen Gymnasien kommen wieder Leistungskurse im Fach Religion zustande. Wie passt das zusammen? Zeit für einen Schulbesuch.
Ein Priester als Religionslehrer – das ist sehr selten geworden.
Sebastian Feuerstein ist jung, schlaksig, cool. Und er ist Priester. Eine Berufsgruppe, mit der Gynmasiasten nur äußerst selten näher in Berührung kommen. „Als Priester bin ich für die Schüler automatisch eine Provokation“, erklärt der 37-Jährige. „Ich finde das positiv. Weil dadurch sofort ein Kontakt hergestellt ist.“
Wie ein Wasserfall sprudeln die Fragen aus den Jugendlichen heraus. Haben Sie wirklich keine Frau? Vermissen Sie die Liebe nicht? Genügt Ihnen Gott wirklich? Wie unterhalten Sie sich mit ihm? „Wenn ich all diese Fragen beantwortet habe, bin ich in der Klasse angekommen und mittendrin im Religionsunterricht“, lächelt Sebastian Feuerstein. „So einfach ist das.“
Seit vier Jahren unterrichtet der junge Seelsorger nun schon am Friedrich-Ebert-Gymnasium in Sandhausen. Mit große Deputat. Feuerstein ist einer von nur drei Priestern der Erzdiözese Freiburg, die man noch am Gymnasium findet. Das war früher anders, doch Berufungen sind selten geworden. Die wenigen Männer, die sich noch für den Priesterberuf entscheiden, müssen Großpfarreien leiten. Sebastian Feuerstein muss das nicht. Er ist eigens an die Schule entsandt worden. Um zu erkunden, wie man den katholischen Religionsunterricht attraktiver machen kann.
„Ich muss mich als Person zu hundert Prozent investieren“, sagt Feuerstein.
Für Sandhausen ist Feuerstein ein Glücksfall. Sein Reliunterricht ist beliebt. „Es ist eine Mähr, dass die heutige Jugend nichts mehr wissen will, von Gott und der Kirche“, sagt der geweihte Lehrer.
Die jungen Leute stellten allerdings einen viel höheren Anspruch an die Ehrlichkeit und Authentizität als die Generationen vor ihnen. „Ich muss mich als Person zu hundert Prozent investieren“, betont Feuerstein. „Ich muss die Schüler teilhaben lassen an meinem Ringen und meinem Zweifeln, an meinem Suchen und meinem Hoffen, an meinem Bangen und an meiner Freude.“
Religion ist das einzige Schulfach, das im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankert ist. Artikel 7 garantiert, dass Religionsunterricht an öffentlichen Schulen als ordentliches Lehrfach angeboten wird. Gemäß der Landesverfassung Baden-Württembergs ist jeder Schüler zur Teilnahme am Religionsunterricht verpflichtet. Schüler, die aus Gewissensgründen nicht teilnehmen wollen, müssen das Fach Ethik besuchen. Seit diesem Schuljahr wird es überall ab Klasse 6 angeboten.
Am Gymnasium in Sandhausen gibt es in diesem Jahr sogar zwei Leistungskurse Religion.
„Am Friedrich-Ebert-Gymnasium in Sandhausen haben mehr als 80 Prozent der Schüler den Religionsunterricht gewählt“, berichtet Markus Wild. Der evangelische Pfarrer unterrichtet seit zwanzig Jahren Religion. In Vollzeit. „In diesem Jahr haben wir sogar zwei Leistungskurse mit fünf Wochenstunden Religion.“
Natürlich spiegelten diese Zahlen den eher „wohlbehüteten“ Einzugsbereich des Gymnasiums von Sandhausen wieder, überlegt Wild. „Aber es gibt auch viele Eltern, die möchten, dass die Schule den Kindern eine religiöse Bildung vermittelt. Vielleicht, weil sie sich das selbst nicht mehr zutrauen.“
Die Übergänge sind in allen Schularten und Klassenstufen fließend. Getaufte Schüler brauchen eine schriftliche Abmeldung vom Religionsunterricht, um das Fach Ethik besuchen zu können. Ungetaufte Kinder können sich jederzeit zum konfessionellen Religionsunterricht anmelden oder von ihren Eltern angemeldet werden. Auch wenn die Eltern selbst keiner Kirche angehören.
An den Grundschule legten die Eltern großen Wert darauf, dass ihre Kinder den christlichen Glauben kennenlernen.
„Der zweite Fall tritt deutlich öfter ein als der erste“, weiß Sabine Bayreuther. Sie ist die Schuldekanin des evangelischen Kirchenbezirks Ladenburg-Weinheim. Vor allem in der Grundschule legten die Eltern offensichtlich großen Wert darauf, dass ihre Kinder den christlichen Glauben kennenlernen.
„Dabei sind Klassen, in denen nur noch ein Drittel der Schüler getauft ist, auch an der Bergstraße keine Seltenheit mehr“, berichtet Sabine Bayreuther. Und in jeder ersten Klasse säßen mindestens zwei Kinder, die noch nie die Weihnachtsgeschichte gehört hätten. „Für diese Kinder werden die Schulgottesdienste vielleicht die einzigen Erfahrungen mit Kirche sein, die sie in ihrem Leben machen.“
Manchmal wirkt der Religionsunterricht aber auch wie eine Initialzündung: „In der Evangelischen Kirche sollen die Pfarrerinnen und Pfarrer sechs bis acht Stunden pro Woche in den Grundschule an ihrem Dienstort unterrichten“, berichtet Sabine Bayreuther.
Religion ist das einzige Fach, in dem die Schüler einbringen dürfen, was ihnen auf die Seele drückt.
Diese persönlichen Begegnungen, lassen in manchen Eltern den Wunsch reifen, ihr Kind taufen zu lassen. „Es ist sehr berührend, wenn man im Taufgespräch erfährt, welche Gedanken sie zu diesem Schritt bewogen haben“, sagt die Weinheimer Schuldekanin. „In den meisten Fällen ist es der Wunsch, seinem Kind etwas Gutes zu tun.“ Die Taufkerze steht dann ein Leben lang im Wohnzimmerregal.
Religion ist das einzige Fach im Schulkanon, in das die Schüler alles einbringen dürfen, was ihnen auf die Seele drückt. Den verstorbenen Opa, die zerbrochene Freundschaft, die Scheidung der Eltern, das Virus. „Diese Grenzfragen des Lebens beschäftigen Kinder“, weiß Sabine Bayreuther. „Es ist wichtig, dass ihre Sorgen im Religionunterricht ernst genommen werden. Und dass ihnen Deutungsmöglichkeiten angeboten werden.“
Gefühl und Seele dürfen aber immer nur ein Teil des Religionsunterrichts sein, gibt Sebastian Feuerstein, der Priesterlehrer aus Sandhausen, zu bedenken. Daneben müssten die Schüler – zumindest im Gymnasium – immer auch eine Einführung erhalten in die Theologie. „Das ist eine Wissenschaft, die den gleichen Stellenwert hat wie alle anderen Wissenschaften auch.“ Womit wir bei Feuersteins Lieblingsthema angekommen wären: Dem Religionsunterricht in der gymnasialen Oberstufe.
Was ist Erkenntnis? Was ist Realität? Was ist wahr? Wie kann ich überhaupt etwas wissen?
Als Einstieg in Klasse 11 thematisiert er immer sehr ausführlich die „scheinbare Unvereinbarkeit“ von Naturwissenschaft und Glauben. „Da geht es um die großen philosophischen Fragen: Was ist Erkenntnis? Was ist Realität? Was ist wahr? Wie kann ich überhaupt etwas wissen? Das sind Grundfragen, die sich alle jungen Menschen stellen.“ Nach dieser Unterrichtseinheit ist schon ein Großteil des ersten Schulhalbjahrs vergangen.
Es reicht gerade noch für die Diskussion der wissenschaftlichen Methodik. Wie funktioniert Geisteswissenschaft? Wie Naturwissenschaft? Was ist die Falsifikationstheorie von Karl Popper? So geht Religionsunterricht in Sandhausen. „Meine Schüler kriegen immer erst mal einen Schock, wenn sie merken, dass sie in Religion richtig lernen müssen“, lacht Sebastian Feuerstein. „Mit Hausaufgaben und Klausuren wie allen anderen Fächern auch.“
„Als Lehrerin konnte ich verfolgen, wie die Schüler Gedanken ausprobieren, weiterspannen, verwarfen.“
Dieses „Theologisieren“ funktioniert übrigens nicht nur in der Oberstufe des Gymnasiums, das können auch schon jüngere Schüler. Sagt Schuldekanin Bayreuther. Ein Beispiel: Die „Wundergeschichten“ im 5. Schuljahr an der Realschule.
„Wir waren fast fertig mit der Lerneinheit“, erzählt Sabine Bayreuther, „als sich plötzlich eine Schülerin meldete und genau die richtige Frage stellte: Wie hat Jesus die Wunder eigentlich gemacht?“
Sofort entspann sich in der Klasse eine lebhafte Diskussion um das Thema Zauberei, Magie, Allmacht Gottes. „Als Lehrerin konnte ich mitverfolgen, wie die Schüler verschiedene Gedanken ausprobierten, weiterspannen oder verwarfen“, erinnert sich die Weinheimer Schuldekanin mit Begeisterung. Die Lösung des Problems, auf die sich die Schüler schließlich einigten: „Eigentlich war es ja Gott, der diese Wunder gewirkt hat. Aber weil Gott und Jesus ein gemeinsames Herz haben, konnte auch Jesus solche Wunder tun.“
„Ich möchte die Theologie herausholen aus den Verdacht, sie sei mit der Vernunft nicht vereinbar.“
Das Gymnasium mute den Schülern einiges zu an denkerischen Herausforderungen, findet Sebastian Feuerstein. „In Mathematik, in den Naturwissenschaften, selbst im Deutschunterricht. Wie kommt man auf den Gedanken, dass der Religionsunterricht das nicht kann?“
Eines seiner großen Ziele als Lehrer sei es, sagt Feuerstein, „die Theologie herauszuholen aus dem Verdacht, sie sei mit der Vernunft und der Welt eines modernen Menschen nicht vereinbar.“ Mit diesem Ansatz rekrutiere er vielleicht keine neuen Kirchgänger. „Aber ich bilde Schüler aus, die ich wirklich gern mit der Hochschulreife in diese Welt entlasse.“
Aus der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Theologie müssen immer konkrete Konsequenzen folgen.
Markus Wild, der evangelische Religionslehrer am Friedrich-Ebert-Gymnasium zu Sandhausen, definiert sein Ziel ein wenig anders. Praktischer, konkreter. „Mir ist es wichtig, aufzuzeigen, dass aus der wissenschaftlichen Beschäftigung mit biblischen Texten, konkrete Konsequenzen folgen können: Im Umweltschutz, im Miteinander, in der Gerechtigkeit auf der Welt, bei der Sicherung des Friedens.“
Beim letzten mündlichen Abitur habe einer seiner Schüler – nennen wir ihn Manuel – in der Aula vor der Prüfungskommission einen Präsentationsvortrag halten müssen, berichtet Sebastian Feuerstein. „Wie er da so stand, habe ich mich zurückerinnert, wie ich Manuel kennengelernt habe. Ungetauft, chaotisch und total kritisch.“
Jetzt, drei Jahre später, philosophierte derselbe Schüler fundiert und tiefgründig darüber, wie Menschen es geschafft haben, sich die Freiheit des Glaubens selbst im Grauen des Konzentrationslagers zu bewahren. „Da ging mir das Herz auf“, sagt Feuerstein. „Da wusste ich, dass es sich lohnt, was ich tue.“