Das weibliche Gesicht der Kirche

Ein Fenster nur für Frauen in der evangelischen Kirche von Baiertal.

Der Aufschrei war so laut, dass ihn die gesamten Republik hörte: „Der Herr Pastor ist jetzt eine Frau!“. So titelte die Illustrierte „Quick“ an Pfingsten 1959. Der Leitartikel ließ keinen Zweifel daran, dass damit das Ende der Welt nahe war. Dabei hatten die ersten evangelischen Pfarrerinnen in Deutschland kaum Rechte. Sie durften nicht heiraten, nicht predigen, ja sie durften sich noch nicht einmal „Pfarrerin“ nennen, sondern blieben lebenslang „Pfarrvikarinnen“.

Eine andere Zeit. Heute werden schon mehr als die Hälfte der evangelischen Gemeinden in Baden von einer Pfarrerin geleitet. Und an der Theologischen Fakultät der Uni Heidelberg studieren derzeit doppelt so viele Frauen wie Männer. Was macht das mit der evangelischen Kirche? Ein Erkundungsgang. 

Ein evangelisches Gotteshaus gibt es in Mudau nicht. Wohl aber eine Pfarrerin.

Das Bauland. Unendliche Weiten. Während unten im Tal schon der Frühling knospt, fröstelt man hier oben auf 456 Metern noch. Flächenmäßig ist Mudau die zweitgrößte Gemeinde im Neckar-Odenwald-Kreis; die Gegend gehört jedoch zu den am dünnsten besiedelten Gebieten Baden-Württembergs.

Das Städtchen Mudau zählt etwa 5000 Einwohner, den Mittelpunkt bildet die katholische Kirche St. Pankratius. Sie hat eine stattliche Größe, wie sich das gehört im „Madonnenländchen“. Ein evangelisches Gotteshaus gibt es in Mudau nicht. 

Rebecca Stober (38) ist die Pfarrerin von Mudau.

Wohl aber eine Pfarrerin. Rebecca Stober ist 38, verheiratet, Mutter von drei Kindern und Herrin über eine ansehnliche Schar von Federvieh. Die Hühner tummelt sich in dem riesigen Garten rund um das Pfarrhaus. Dieses Wort müsste eigentlich in Anführungszeichen stehen, denn die Jugendstilvilla war früher eine Apotheke, deren Erdgeschoss man zu einem intimen Betsaal umgebaut hat.

„Mein Ziel ist es, der evangelischen Kirche ein Gesicht zu geben, das man gern anspricht.“

An guten Sonntagen versammeln sich hier 25 Menschen, oft kommen aber auch nur fünf. Pfarrerin Stober stört das nicht. Sie begreift ihre Aufgabe missionarisch. „Mein Glauben gibt mir so viel Kraft, das ich ihn gern nach außen trage.“

Auf die Feste der alteingesessenen Mudauer beispielsweise. Oder in die Neubaugebiete zu den jungen Familien. Oder in die Grundschule, wo die Pfarrerin unterrichtet. „Mein Ziel ist es, der evangelische Kirche ein Gesicht zu geben, das man gern anspricht.“ Ob das ein männliches oder ein weibliches Gesicht ist, findet Rebecca Stober „irrelevant.“ Was nicht heißen soll, dass es keine Unterschiede gibt in der Herangehensweise der Geschlechter. „Eine gute Mischung ist immer das Optimum“, findet Stober.

Das Pfarrhaus in Mudau war erst eine Apotheke, dann hat man ein Betsaal eingebaut.

Derzeit treten pro Jahr rund 30000 Menschen aus der Evangelischen Landeskirche von Baden aus.

475 Pfarrer und 440 Pfarrerinnen stehen auf der Gehaltsliste der evangelischen Landeskirche von Baden. Sie kümmern sich um etwas mehr als eine Million Kirchenmitglieder. Wobei derzeit rund 30000 Menschen pro Jahr aus der Landeskirche austreten. Ein Ende dieses Trends ist nicht in Sicht.

Die evangelische Kirche von Baden hat sich daher einen radikalen Sparkurs verordnet. Alle Kosten sollen um dreißig Prozent reduziert werden. Beim Personal funktioniert das von allein, weil der Nachwuchs spärlicher sprießt. Von den Gebäuden muss schmerzhaft Abschied genommen werden. Auch Rebecca Stober in Mudau bangt um ihr Jugendstil-Zuhause, für das die Gebäude-Ampel auf rot steht. Die Landeskirche wird es also nicht länger finanzieren. „Wir hoffen trotzdem, dass sich eine Lösung findet.“

Mutiger Neustart nach der Kinderzeit: Ulrike Walter startete erst mit 42 ihr Theologie-Studium.

Ulrike Walter ist Pfarrerin in Epfenbach und Spechbach im Kraichgau.

Ulrike Walter hat spät zum Pfarrberuf gefunden. Erst mit 42 Jahren startete die gelernte Bankkauffrau ihr Theologie-Studium. Davor war sie Hausfrau und Mutter von drei Kindern in Wertheim. „Man kann es sich heute kaum vorstellen, aber früher gab es weder Kinderbetreuung noch Halbtagsstellen“, erinnert sich die Pfarrerin von Epfenbach und Spechbach im Kraichgau. Also blieb frau eben zuhause.

Zehn Jahre, zwanzig Jahre. Unmöglich, danach in der Bank wieder Anschluss zu finden. Ulrike Walter beschloss stattdessen ihren Herzenswunsch zu verwirklichen: Sie wollte Pfarrerin werden. Das klingt einfacher, als es ist. Denn das Theologiestudium ist lang und verlangt drei Fremdsprachen: Latein, Griechisch und Hebräisch. „Ich habe mir ein Zimmer in Bammental gemietet und gebüffelt. Es war eine wunderbare Zeit.“

Den ersten Pfarrerinnen Deutschlands war es verboten zu heiraten. Gab eine ihr Ja-Wort, blieb ihr die Kanzel versperrt.

Sophie Scholl (o.) und Edith Stein (u.)

Das evangelische Heiratsverbot für die ersten Pfarrerinnen – damals in den Sechzigern – hielt sich fast fünfzehn Jahre. Frauen durften zwar eine Theologiestudium absolvieren, ordiniert wurden sie aber nur, solange sie ledig blieben. Gab eine ihr Ja-Wort, blieb ihr die Kanzel versperrt. Erst am 19. Dezember 1971 fasste die Badische Landessynode den semantisch erstaunlichen Beschluss: „Ein Pfarrer im Sinn der Grundordnung ist auch eine Pfarrerin.“

Die Strukturreform der Badischen Landeskirche trifft den Nordosten besonders schmerzhaft.

Rebekka Stober, die Pfarrerin von Mudau, liebt das Leben auf dem Land. Schon seit sie denken kann. In Altneudorf bei Schönau ist sie aufgewachsen. Und dort hat sie auch den Glauben entdeckt. Eher durch Zufall. „Eine Freundin hat mich zum Konfiunterricht eingeladen“, erinnert sich Stober. Und weil in Altneudorf eher nicht so viel los ist, sei sie eben mitgegangen. „Kaum hatte ich die Kirche betreten, wusste ich, dass ich ein Leben lang hierher gehören möchte.“ Dieses Gefühl des Daheimseins im Glauben sei bis heute geblieben, sagt die Pfarrerin. Es gebe ihr viel Kraft. Gerade in Zeiten wie diesen.

Rebecca Stober bei ihrer Ordination in Walldorf.

Die Strukturreform der Badischen Landeskirche nämlich trifft den Nordosten besonders schmerzhaft. Gleich drei Kirchenbezirke sollen hier fusionieren: Mosbach, Wertheim und Adelsheim-Boxberg. Das sind dann wahrhaft unendliche Weiten.

Rebecca Stober, die ja schon heute ohne Kirche verkündet, kann auch diese Vorstellung nicht erschrecken. „Das wichtigste ist, dass wir in Zukunft noch viel mehr als heute aktiv, offen und glaubwürdig auf die Menschen zugehen.“ Bei Beerdigungen, wo sich viele Trauernde sich versammeln, müsse der Predigttext einfach ergreifen. Dasselbe gilt für Hochzeiten und Taufen. „Da darf man nichts Vorgefertigtes nehmen, sondern muss richtig viel Zeit investieren.“

In Baiertal gibt es neuerdings eine „Frauenkirche“. Dank eines Fensters. Und dank Corona.

Die evangelische Kirche von Wiesloch-Baiertal liegt idyllisch eingebettet in einem alten Friedhof und ist normalerweise unter der Woche abgeschlossen. In der Corona-Zeit jedoch wollte die Gemeinde ihre schöne Kirche für das persönliche Gebet öffnen. Freiwillige wurden gesucht als Ansprechpartner im Kirchenraum. Gisela Krewing-Rambausek, eine Krankenschwester im Ruhestand und engagiertes Gemeindeglied, sagte sofort zu. Tag für Tag saß sie nun hinter ihrer Maske im Kirchenschiff, wartete auf Passanten und ließ den Blick schweifen.

Käthe Kolwitz (oben), Bertha von Suttner (l.) und Florence Nightingale.

Da fiel ihr plötzlich auf, dass aus den Fenstern nur Männer zu ihr herabsahen: Luther, Melanchthon, Calvin … Gab es denn keine spannenden Frauen in der Kirchengeschichte? Was war mit Edith Stein? Mit Sophie Scholl? Florence Nightingale? Käthe Kollwitz?

Kaum so weit gedacht, entstand plötzlich eine Vision im Kopf von Gisela Krewing-Rambausek: Wie wäre es, wenn sie der evangelischen Kirche von Baiertal ein Frauenfenster stiftete? Am besten ein ganz modernes. Von Jürgen Goertz vielleicht, dem berühmten Eichtersheimer Avantgardekünstler. Die Idee ist Wirklichkeit geworden. Und die Kirche von Baiertal neuerdings ein Treffpunkt für Frauengruppen jeden Alters. Es gibt sogar schon eine Seminarreihe zu den Fenstern.

Der Kraichgau ist das genaue Gegenteil zum Madonnenländchen: sonnig, fruchtbar, urprotestantisch.

Epfenbach liegt etwa auf halbem Weg zwischen Neckargemünd und Sinsheim. Es ist eine entspannte, meditative Landschaft, sonnenverwöhnt, fruchtbar und urprotestantisch. Also das genaue Gegenteil zum „Madonnenländchen“. Die Kraichgauritter im 16. Jahrhundert haben sich als erste der Reformation angeschlossen, weil sie endlich auch im Glauben ihre eigenen Herrn sein wollten.

Die evangelische Kirche in Epfenbach.

Das Pfarrhaus von Epfenbach steht daher auch prominent mitten im Dorf. Es ist ein stattliches Gebäude, umgeben von einem riesigen, uralten  Garten. Repräsentativer geht es nicht. Nur einen Haken hat die Sache: Im Winter werden die hohen Räume nie richtig warm. „Mein Mann und ich haben uns deshalb sofort einen Kamin angeschafft“, verrät Pfarrerin Ulrike Walter. 

Epfenbach und Spechbach sind die beiden ersten und vermutlich auch die beiden letzten Pfarreien, die Ulrike Walter je leiten wird. Der Aufwand mit dem schweren Studium habe sich trotzdem absolut gelohnt, sagt die Pfarrerin. „Ich merke, dass ich jetzt am richtigen Platz angekommen bin.

Inzwischen leitet die Pfarrerin auch den evangelischen Männerkreis. Zur Zufriedenheit der Teilnehmer.

Die Ordensschwester Caritas Pirckheimer und die Stifterin Gisela Krewing-Rambausek.

Ulrike Walter ist erste Pfarrerin in Epfenbach, davor wirkten hier nur Männer. Trotzdem verlief die Akklimatisation problemlos. Was vielleicht mit der Lebenserfahrung und der inneren Ruhe der Pfarrerin zusammenhängt. „Inzwischen leite ich auch den evangelischen Männerkreis“, verrät Walter lächelnd.

Offensichtlich zur Zufriedenheit der Teilnehmer, denn es stoßen sogar wieder neue Männer hinzu. Sie habe festgestellt, sagt Walter, dass absolute Offenheit das Erfolgsrezept ist. „Wenn ich jemandem offen entgegentrete, ist es meist völlig irrelevant, welchem Geschlecht ich angehöre.“ 

„Eine Pfarrerin kann doch nicht auf ihren Feierabend pochen, wenn ein Mensch im Sterben liegt.“

Ulrike Walter bei ihrer Ordination.

Vier Abendtermine hat Pfarrerin Walter mindestens in der Woche. Meist werden es mehr. Weil das Leben nicht  planbar ist. „Als Pfarrerin kann ich doch nicht auf meinen Feierabend pochen, wenn ich höre, dass jemand im Sterben liegt.“ Oder wenn ein verzweifelter Mensch anruft, der jemanden braucht, der ihm zuhört. Oder wenn eine überlastete Mutter nicht mehr weiter weiß. Oder eine pflegende Tochter. All das komme viel öfter vor, als man denkt. Sagt Pfarrerin Walter.

Gerade das sei ja die Stärke – und vielleicht auch die Chance – der Kirche: Dass sie ansprechbar ist, wenn es um die großen Themen des Lebens geht. Geburt, Hochzeit, Krankheit, Tod. „Innere Erschütterungen machen die Menschen durchlässig“, beobachtet Ulrike Walter. „Dann öffnen sie sich, beginnen zu suchen, werden empfänglich.“ 

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