Die neue Lust auf Heiligkeit

Bisher war „heilig“ immer katholisch.
Doch das ändert sich jetzt.

Die Ewigkeit kann sehr lang werden. Vor allem, wenn man sie im Fegefeuer verbringen muss. Kurfürst Friedrich III. von Sachsen hatte daher vorgesorgt: Er hortete 19000 Reliquien von Heiligen, die ihm zwei Millionen Jahre im Feuer ersparen sollten.

So rechnete man 1517. Der Prediger des Kurfürsten war Martin Luther. Ihn hat der Glauben an die Hilfe heiliger Knochen so in Rage gebracht, dass er 95 wütende Thesen an die Wittenberger Kirchentür hämmerte. Am Vorabend von Allerheiligen. Seitdem liegt das Thema „Heilige“ wie ein Minenfeld zwischen den Konfessionen. Sagt man. Aber stimmt das noch? Eine Exkursion auf schwieriges Terrain.

„Natürlich kann ich überall beten. Aber schöne Kirchenräume tun mir einfach gut.“

Professor Traugott Schächtele ist Prälat der Evangelischen Landeskirche von Baden. Quasi der Stellvertreter des Bischofs, sehr verkürzt gesagt. Die richtige Adresse jedenfalls, um mit der evangelischen Kirche über Heilige zu sprechen. „In einer Kreisbewegung“, sagt Schächtele, musste er sich diesem Thema annähern. „Weil ich gemerkt habe, dass in mir zwei Bereiche in Rivalität liegen.“

Luther machte die Heiligen zum
Minenfeld zwischen den Konfessionen

Da ist zum einen die klassisch protestantische Lehre, wonach die gesamte Schöpfung Gottes heilig ist. Zusatzheiligkeit braucht es nicht. Kein Mensch und kein Ort können heiliger sein als ein anderer. Dennoch, gesteht Prälat Schächtele, suche er neuerding immer öfter nach Plätzen, die eine besondere Sakralität ausstrahlen. Heilige Orte.

„Natürlich kann ich überall beten. Aber schöne Kirchenräume tun mir einfach gut. Ich finde dort leichter zu Gott.“ Die Kapelle, in der seine Frau und er getraut worden sind, beispielsweise. Hoch oben auf dem Tuniberg bei Freiburg. „Dieser Ort ist für mich tatsächlich heilig.“

„Heilig sind für mich auch die Zeiten der Stille. Ausgegrenzt aus dem Alltag. Unantastbar.“

Traugott Schächtele steht mit seiner Sehnsucht nach dem Ganzanderen nicht allein. Allenthalben hört man momentan die Forderung, evangelische Kirchen auch unter der Woche zu öffnen. Die Reformatoren würden ob dieses Anliegens die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Schächtele: „Sie haben explizit gesagt, ihr könnt eure Andacht auch zuhause im Stall halten. Einen Tempel braucht es nicht.“

Professor Traugott Schächtele,
der evangelische Prälat von Baden

„Heilig“ seien ihm auch Zeiten der Stille, sagt der Prälat. Er schneide sie sich bewußt aus seinem vollen Kalender heraus. „Das sind besondere Stunden.“ Ausgegrenzt aus der Normalität des Alltags. Unantastbar. „Niemand bekommt da bei mir einen Termin.“

Marius Fletschinger empfängt in den Räumen der katholischen Hochschulgemeinde in Mannheim unweit der Reiss-Engelhorn-Museen. Man sitzt in kunterbunten Sesseln umgeben von Topfpflanzen. Fletschinger ist 35 und katholischer Priester. Einer der wenigen jungen, die es in der Erzdiözese Freiburg noch gibt. Momentan schreibt Fletschinger seine Doktorarbeit und sorgt für die Seelen der Studierenden. Fast auf Zehenspitzen tastet sich auch der Unipfarrer an das Thema Heilige heran.

„Seine grundgelegte Heiligkeit kann kein Mensch je verlieren. Aber er kann sie mit Füßen treten.“

Marius Fletschinger ist katholischer Hochschulpfarrer in Mannheim

„Eigentlich beschreibt Heiligkeit die Eigenschaft Gottes“, überlegt Fletschinger. Unfassbar groß, erhaben, staunenswert. „Etwas, auf das wir Menschen keinerlei Zugriff haben.“ Es sei denn, Gott selbst ließe uns teilhaben an seiner Heiligkeit, was er mit der Erschaffung der Welt erstaunlicherweise getan hat. „Diese grundgelegte Heiligkeit kann kein Mensch je wieder verlieren“, betont Fletschinger. Nachsatz: „Aber er kann sie natürlich mit Füßen treten.“

Martin Luther wusste alles über die Heiligen. Schließlich war er in Mansfeld aufgewachsen, mittendrin in der rauen Bergarbeiterwelt des Harz. Beständig gab es Explosionen, Brände, Einstürze. Des Teufels Werk, sagte man dem kleinen Martin. Da könnten nur die Heiligen im Himmel helfen. Luther hat diese Lehre tief verinnerlicht. Als er während des Studiums im Wald bei Erfurt in ein Unwetter geriet, flehte er in Todesangst zur heiligen Anna, der Patronin der Bergleute. Luther versprach, wenn sie ihn vor den Blitzen bewahre, werde er ins Kloster eintreten. Ob er das sowieso vorhatte, sei dahingestellt.

Martin Luther war von Jugend an mit den Heiligen vertraut

Es gibt auch heute noch viele Katholiken, die Heilige um Fürsprache im Himmel bitten. Doch diese Stimmen werden weniger. Die nachwachsende Generation wendet sich in der Not meist direkt an Gott. Den Heiligen bleibt die Rolle als Vorbilder im Glauben. „Modellhaft interessant“ findet Marius Fletschinger beispielsweise Teresa von Avila und Benedikt von Nursia, Sophie Scholl und Alfred Delp. Das die beiden Letzten nicht offiziell heilig gesprochen sind, stört den jungen Priester nicht. „Ich sehe auch in Mahatma Gandhi die Qualitäten eines Heiligen. Aber ihn darf man nicht einfach für das Christentum vereinnahmen.“

Natürlich hat jeder Mensch seine Schattenseiten. Selbst wenn er heiligmäßig lebt.

Dietrich Bonhoeffer, Martin Luther, Katharina von Bora, Olympia Fulvia Morata. Diese Namen fallen in der evangelischen Prälatur zu Schwetzingen. „Ich nenne diese Menschen zwar nicht heilig, aber geprägt haben sie mich schon“, sagt Traugott Schächtele. „Weil sie ein anderes Modell gelebt haben als Gier, Raff, Erfolg und Macht.“ Natürlich habe jeder Mensch seine Schattenseiten, selbst wenn er heiligmäßig lebt, sinniert Schächtele. Man denke da nur an die Debatte über Luthers antisemitische Schriften. „Doch ich glaube, Gott geht damit viel großzügiger um als wir“, lächelt der 63-jährige Theologieprofessor.

„Modellhaft interessant“:
Teresa von Avila

Dann wird der plötzlich sehr ernst. Was aber nicht heißen solle, dass es Gott egal ist, wie wir leben. Ganz im Gegenteil. Gott erwarte, dass jeder Mensch bis zu seinem letzten Tag versucht, ein Stück heiliger zu werden. „Immer nur brav im alten Trott weiterzumachen reicht dafür nicht“, mahnt Traugott Schächtele. „Jeder soll so handeln, als ob der Fortbestand der Welt allein von ihm abhinge.“ Das braucht Mut. Das braucht den Willen, etwas zu verändern. Und das braucht Gottvertrauen. „Aber wer dabei scheitert, darf sicher sein, dass Gott ihn auffängt.“

Das Augustinerkloster in Erfurt brachte Martin Luther eher Leistungsdruck denn Seelenruhe. Die Mönche wetteiferten darin, wer von ihnen am schnellsten heilig würde. Fastenmarathons, durchbetete Nächte, Schlafentzug, wochenlanges Schweigen, kratzige Kleidung. „Ich hatte vierzehn Schutzheilige und an jedem Tag rief ich sie alle zwei Mal an“, berichtete Luther später mit unüberhörbarem Sarkasmus. Kein Wunder, dass der Reformator von Klöstern nichts mehr wissen wollte. Erst heute, 500 Jahre später, formieren sich langsam wieder evangelische Kommunitäten.

Paulus nannte die Empfänger seiner Briefe stets „meine lieben Heiligen.“

Der Apostel Paulus hatte die Angewohnheit, die Empfänger seiner Briefe stets „meine lieben Heiligen“ zu nennen. Offensichtlich ging er davon aus, dass Menschen, die sich zu Jesus Christus bekennen, automatisch heilig sind und in den Himmel kommen. Ist das nicht etwas zu einfach gedacht? Gibt es nicht noch das Jüngste Gericht? Und vielleicht droht sogar die ewige Verdammnis?

Benedikt von Nursia im Park
der Heidelberger Abtei Neuburg

Traugott Schächtele zögert. „Es muss auf jeden Fall einen Ort geben, wo die Ungerechtigkeit, die auf Erden nicht ausgeglichen worden ist, ihren Ausgleich findet“, formuliert er dann. „Die Opfer müssen in jedem Fall zu ihrem Recht kommen. Sonst wäre Gott ungerecht – und das ist undenkbar.“ Für ihn, sagt der evangelische Prälat, sei die Notwendigkeit eines solchen Ausgleichs zwischen Opfer und Täter der stärkste Beweis dafür, dass nach dem Tod nicht alles zu Ende ist. Denn wenn es ihn nicht gäbe, wäre jede Moral sinnlos. „Doch wie dieser Ausgleich auch immer aussehen mag, ich bin fest davon überzeugt, dass irgendwann alle in Gott enden.“

„Es könnte Menschen geben, die mit ihrer Lebensgeschichte nicht versöhnt werden wollen.“

Auch Marius Fletschinger, der junge katholische Hochschulpfarrer aus Mannheim, glaubt, dass Gott Möglichkeiten besitzt, um zu verhindern, „dass jemand aus der Gemeinschaft der Heiligen herausfällt“. Wobei das Problem wohlgemerkt nicht darin bestehe, dass man die Anforderungen fürs Paradies nicht erfüllt. Sondern Fletschinger sieht die Gefahr eher darin, dass sich jemand bewusst aus der Gemeinschaft der Heiligen ausgrenzt. Das unversöhnlich Böse. „Zumindest theoretisch könnte es Menschen geben, die mit ihrer eigenen Lebensgeschichte und den Leuten, die darin verstrickt sind, auf Dauer nicht versöhnt werden wollen“, überlegt Marius Fletschinger.

In den Katakomben von Rom:
„Das macht demütig
.“

Und die Opfer könne man auch nicht dazu zwingen, ihren Peinigern zu verzeihen. „Das wäre in höchsten Maße übergriffig, also mit Gott niemals vereinbar.“ Als bleibt die Sache offen und die Tür zum Himmel zu? „Dieses Risiko ist Gott mit seiner Schöpfung bewusst eingegangen“, nickt Fletschinger. Dann lächelt er. „Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass Gott tatsächlich Deadlines setzt, nach denen nichts mehr möglich ist. Die Möglichkeit zur Versöhnung wird in Ewigkeit da ist.“

Letztes Jahr war Traugott Schächtele in Rom und hat in den Katakomben einen ökumenischen Gottesdienst gefeiert. „Es war ein unglaubliches Gefühl, mit all den tausend Menschen, die hier begraben liegen, verbunden zu sein“, erinnert er sich. Als stehe man auf den Schultern von ganz vielen anderen, ohne die der Glaube an Jesus Christus nicht existent wäre. „Das macht demütig.“ Vielleicht ist das die richtige Gemütslage an Allerheiligen.

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