Ein Fach auf dem Prüfstand

Religionsunterricht gilt als heißes Eisen. Dabei ist er wichtiger denn je.

Es war die letzte Religionsstunde vor dem Abitur. Die Nervosität der Schüler konnte man mit Händen greifen, ihre Stimmung schwankte hin und her zwischen Panik und Fatalismus. Plötzlich stand die Lehrerin auf. Sie habe ein Angebot, sagte Beate Großklaus. „Ich würde gern jedem von Ihnen die Hände auflegen und Ihnen den Segen Gottes mit in die Prüfungen geben. Sie müssen mir nur signalisieren, ob Sie das möchten oder nicht.“

Eine Minute lang herrschte Stille im Klassenzimmer. Dann trat der erste Abiturient vor die Pfarrerin hin. „Am Ende“, erinnert sich Beate Großklaus lächelnd, „stand die ganze Klasse gemeinsam im Kreis.“

Religionsunterricht an deutschen Schulen – das ist ein heißes Eisen. Überflüssig sei dieses Fach in unserer multikulturellen Gesellschaft, sagen die Gegner. Ja, mehr noch: In höchstem Grad manipulativ. Weil es nicht Erkenntnis vermittle sondern nur Bekenntnis. Und überhaupt sei Glauben doch Privatsache! Dabei ist fundierter Religionsunterricht heute vielleicht sogar wichtiger denn je. Weil er helfen kann zu verstehen. Und weil er Halt gibt in einer Zeit, in der multiple Krisen und Kriege an der Tagesordnung sind. Ein Schulbesuch.  

Nur ein einziges Schulfach ist im Grundgesetz fest verankert.

Beate Großklaus ist evangelische Schuldekanin in Heidelberg.

Religion ist das einzige Schulfach, das im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankert ist. Artikel 7 besagt: „Der Religionsunterricht ist an öffentlichen Schulen ein ordentliches Lehrfach. Er wird benotet und ist versetzungsrelevant. Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, über die Teilnahme des Kindes zu bestimmen.“ Diese Formulierung stammt aus den Jahr 1949. Damals sortierte sich die deutsche Gesellschaft noch brav in die beiden großen christlichen Konfessionen ein. 

2024 stellt sich das anders dar. Bei der letzten Zählung der Kultusministerkonferenz besuchten 31 Prozent der Schüler den evangelischen Religionsunterricht. 27 Prozent saßen in der katholischen Religionslehre. Und 29 Prozent beschäftigten sich alternativ mit Ethik oder Philosophie. Die restlichen Prozente verteilte sich auf andere Religionen oder Konfessionen. Der islamische Unterricht taucht in der Statistik nur als hauchfeiner Balken auf. Weil er noch kaum irgendwo angeboten wird.

Heute lernen Kinder schon in der ersten Klasse, dass es nicht nur Christen gibt, sondern auch Juden und Muslime, Buddhisten und Hinduisten.

In der evangelischen Thadden-Grundschule ist Religion Pflichtfach, ….

„Auch inhaltlich ist der Religionsunterricht nicht mehr zu vergleichen mit dem vor 75 Jahren“, sagt Beate Großklaus, die evangelische Schuldekanin von Heidelberg. Heute lernen die Kinder schon in der ersten Klasse, dass es nicht nur Christen gibt, sondern auch Juden und Muslime, Buddhisten und Hinduisten. Und dass es Menschen gibt, die keine Vorstellung von einer Transzendenz haben. „Das steht in jedem Religionsbuch.“ Weil es die Wirklichkeit in unserer Welt ist. „Evangelisch sein bedeutet deshalb immer auch: Interreligiös sprachfähig zu sein.“

8600 Schüler besuchen in Heidelberg den evangelischen Religionsunterricht. 43 Prozent davon sind konfessionsfrei, haben sich aber dennoch für Religion statt für Ethik entschieden. Vielleicht interessieren sich die Jugendlichen doch dafür, was die Bibel und die Kirche zu sagen haben? Wer nicht schon seit Kindertagen mit der Botschaft Christi aufgewachsen ist, hat noch ein scharfes Empfinden für ihr revolutionäres Potential.

… im Heidelberger Thadden-Gymnasium auch.

Auch das evangelische Elisabeth-von-Thadden-Gymnasium und die Thadden-Grundschule in Heidelberg, wo Religion Pflichtfach ist, können sich vor Anmeldungen kaum retten, berichtet Beate Großklaus. Die Schuldekanin macht sich manchmal die Mühe, nach der Motivation von Eltern zu fahnden, die keiner Kirche angehören und ihre Kinder trotzdem in ein evangelisches Gymnasium schicken wollen. „Das sind berührende Geschichten, die ich da zu hören bekomme“, sagt Großklaus. Weil es immer um die Liebe zum Kind, um die Suche nach der Wahrheit und um den Sinn im Leben geht. „Das ist der Schatz des Religionsunterrichts.“

„Religionslehrer müssen selbst einen festen Halt im Glauben haben. Sonst erschöpft sich der Unterricht im verteilen von Texten.“

Barbara Grom unterrichtet katholische Religion in Sinsheim.

Sinsheim im Kraichgau hat den Gleichstand schon fast erreicht: An der Elsenz leben rund 20000 Christen zusammen mit mehr als 15000 Nichtgetauften. Das entspricht ungefähr dem Verhältnis, das man auch bei den Schülern der Kraichgau-Realschule antrifft. Sie ist eine große Schule mit 860 Schülern und 60 Lehrern. Barbara Grom unterrichtet hier die Fächer katholische Religion und Musik.

„Der Religionsunterricht muss eine Oase im Schulalltag sein“, definiert die Lehrerin. „Ein Ort, wo sich die Persönlichkeit der Schülers entfalten kann und gestärkt wird.“ Das ist ein hoher Anspruch. Barbara Grom nickt. Als Lehrerin, sagt sie, könne man ihm nur genügen, wenn man selbst einen festen Halt im Glauben besitzt. „Sonst erschöpft sich der Religionsunterricht im Verteilen von Texten.“ 

Die katholischen Bistümer lassen den Lehrkräften in ihren Bildungsplänen viel Freiraum. „Das gibt uns die Chance, den Unterricht individuell auf die Schüler zuzuschneiden“, freut sich Barbara Grom. An der Realschule sei das besonders wichtig, weil der Zeitraum zwischen dem 11. und dem 17. Lebensjahr das kniffligste Alter ist. Die Jugendlichen sind keine Kinder mehr, aber sie sind auch noch nicht erwachsen. „Schüler in dieser Lebensphase begleiten zu dürfen und mitzuerleben, welche inneren Kämpfen sie bewältigen, ist schön und aufregend.“

Aber natürlich für eine Lehrerin auch sehr fordernd. Barbara Groms Geheimwaffen gegen die Hippeligkeit der Heranwachsenden: Viele Melodien und immer wieder stille Zeiten, in denen die Schüler beispielsweise über die abstrakten Tuschezeichnungen im katholischen Gesangbuch „Gotteslob“ nachdenken. Mit dem Kopf. Mit dem Gefühl. Und mit den Händen.

Die Kraichgau-Realschule in Sinsheim.

„In den Momenten des Friedens merkt man, wie herrlich der Beruf des Religionslehrers ist.“

„Jeder Schüler erhält ein Blatt, ein Gotteslob und den Arbeitsauftrag, mit den Bildern oder Strichzeichnungen etwas eigenes zu gestalten“, erklärt Grom. Das kann eine Collage sein, ein Gedicht, ein Text, eine Zeichnung, ja sogar ein Papierschiffchen, wenn der Schüler diese Transformation stichhaltig begründen kann.

Während die Klasse arbeitet, herrscht konzentrierte Stille. Meist nur zehn Minuten lang, aber das ist in der Schule schon eine Ewigkeit. Barbara Grom: „Ein Augenblick dauert vier bis sechs Sekunden, und ein Moment zählt 90 Sekunden. In den Momenten des Friedens in der Klasse merkt man wieder, wie herrlich dieser Beruf ist und wie erstrebenswert die gemeinsame Zeit ist.“   

Auf die Stillarbeit folgt das Gespräch im Kreis, wo die Schüler ihre Gedanken erläutern. „Das intuitive Verständnis für Symbole ist in diesem Alter groß“, staunt die Religionslehrerin. Will jemand seine Reflexionen trotzdem lieber für sich behalten, darf er sie auch auf ein Post-it schreiben. „Vielleicht wird er sich sein ganzes Leben lang an die Worte erinnern, die er damals in der Realschule auf den gelben Zettel geschrieben hat“, lächelt Barbara Grom. 

In Hamburg erprobt man derzeit den interreligiösen Religionsunterricht.

In Hamburg, berichtet Beate Großklaus, die Heidelberger Schuldekanin, erprobt man derzeit ein völlig neues Modell: Den interreligiösen  Religionsunterricht. Die Schüler verbleiben dabei im Klassenverband und werden alle Vierteljahre von einem anderen Lehrer unterrichtet. Mal ist der katholische Religionslehrer dran, dann der muslimische, der jüdische und schließlich der evangelische.

Interreligiöser Unterricht: Zukunftsmodell oder Irrweg?

„Meiner Meinung nach ist das für Schüler wie für Lehrer ein zu großer Kraftakt“, überlegt Großklaus. Weil die Kontinuität und die Vertrautheit verloren gehen. Viel sinnvoller findet es die Schuldekanin, wenn sich die Konfessions-Gruppen und die Ethik-Schüler zu bestimmten Themen gegenseitig einladen. Um vielleicht einmal vorzumachen, wie Taufe geht. Oder Abendmahl. 

„Mein Traum ist es“, sagt Beate Großklaus mit leuchtenden Augen, „dass der Religionsunterricht die Schüler mit einem ganzen Arsenal von Brillen ausstatten, die sie je nach Situation aufsetzen können.“ Die christliche Brille, die philosophische, die muslimische, die jüdische. „Und richtig cool wäre es, wenn sie auch noch die buddhistische zur Hand hätten.“

„Schüler dürfen niemals zu Experten für ihre Religion umfunktioniert werden. Sie müssen Lernende bleiben.“

„Interreligöses Begegnungslernen“ nennt die Professorin Katja Boehme ein ähnliches Projekt, das an der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg entwickelt wurde. „Begegnungslernen“, definiert Boehme in ihrem Buch (Herder-Verlag), ist mehr als ein bloßer Kontakt im Schulalltag. Es ist ein „didaktisch angeleiteter und begleiteter Austausch mit dem Ziel der interkulturellen, interreligiösen und demokratischen Bildung.“ Die Schüler, schreibt Boehme, sollen die Kompetenz erlangen, Personen anderer Weltsicht „wertschätzend und respektvoll“ zu begegnen.

Spannend und lehrreich: Ein Schulausflug in die Moschee.

Doch Vorsicht, mahnt Katja Boehme: Die Schüler dürften unter keinen Umständen zu Experten für ihre Religion umfunktioniert werden. „Sie müssen immer Lernende bleiben.“ 

Das Interreligiöse Begegnungslernen ist „ein großer Schatz“, findet Barbara Grom in Sinsheim. Weil auch die Christen noch viel von anderen Glaubensrichtungen lernen können. „Die Wertschätzung beispielsweise, die die Muslime dem Koran entgegenbringen, macht mich immer wieder Staunen: Niemand fasst das Buch an, bevor er sich nicht gewaschen hat.“

Guter Religionsunterricht kann ein Schutzraum sein, wo Tabus angesprochen werden. Wie Sterbenmüssen oder Liebeskummer.

Der Religionsunterricht muss unbedingt ein „Safe Space“ sein, fordert Beate Großklaus. „Wir brauchen ihn als Schutzraum, als sicheren Ort, wo niemand gedemütigt wird, wo man frei seine Meinung äußern darf und auch Tabus angesprochen werden dürfen.“ Wie das Sterben oder der Liebeskummer. Und Barbara Grom denkt manchmal darüber nach, wie ihre Schüler wohl in zehn Jahren auf den Religionsunterricht zurückblicken. „Womöglich kommen sie ja irgendwann wieder in eine katholische Kirche. Und plötzlich sehen sie das Gotteslob, das ihnen in der Schule so vertraut war. Und dann schlagen sie es vielleicht sogar auf und suchen nach den Zeichnungen.“

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